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Aus der Region

Vater Johann - eine Begegnung macht Mut

Partnerschaftsaktion Ost

Heiner Hesse von der Magdeburger Partnerschaftsaktion Ost berichtet von einem Erlebnis am Rande einer seiner letzten Rußlandreisen. Der Besuch einer alten, etwas abseits gelegenen orthodoxen Kirche wird zu einer Geschichte der Hoffnung in einem weiten Land, in dem sich ansonsten Resignation und Pessimismus breitgemacht haben:

Als wir kürzlich zur Malachowsker Schule - einem Internat für sogenannte "unintelligente" Kinder - fuhren, um ihnen Geschenke von deutschen Kindern zu bringen, sind wir von der Straße abgewichen. Schon in den letzten Jahren - immer wenn wir diesen Weg fuhren - war uns eine allein in der Gegend stehende Kirche ausgefallen. Weithin über die Ebene leuchten ihre Zwiebeltürme. Diesmal beschlossen wir, einen Abstecher dorthin zu machen.

Vor dem Tor hackte ein breitschultriger Hüne Holz. Als wir ihn nach dem Priester fragten, stellte er sich als Atjez Johann, Vater Johann, als Priester dieser Kirche vor. Wir baten ihn, uns doch die Kirche zu zeigen. Etwas zögernd legte er die große Axt aus der Hand, begann dann aber bereitwillig über die Kirche und ihre Geschichte zu berichten:

Die "Kirche der Smolensker Ikone der Mutter Gottes" stand einst im Zentrum eines Dorfes. Viele hundert Gläubige kamen zum Gottesdienst. Das Dorf ist längst verschwunden, und heute kommen auf den weiten schlammigen Wegen sonntags nur vier bis acht alte Frauen aus den nächstgelegenen Dörfern zum Gottesdienst. Immer wieder, so berichtet Atjez Johann, versuchen Banditen in die Kirche einzudringen und die letzten wertvollen Ikonen zu stehlen. Ständig habe er damit zu tun, zersägte Fenstergitter zu erneuern, zu verstärken, neue Eisen zu verschweißen.

Auch das Dach der Kirche ist längst undicht, es müßte neu gedeckt werden, denn so dringt das Wasser ins Innere ein und zerstört die wertvollen Fresken und die Farbe blättert von den Ikonen. Im vergangenen Sommer sei er mit einer Alpinistenausrüstung auf die Türme der Kirche geklettert und habe sie mit blauer Ölfarbe gestrichen, berichtet der Priester. In diesem Jahr will er die Arbeit fortsetzen. Mir wurde schon bei dem Gedanken daran schwindelig, als wir oben auf dem Glockturm angelangt waren und hinüber zu den fünf Zwiebeltürmen sehen konnten. Aber der Rundblick hier oben war herrlich - weite graue Felder, dunkle Wälder, das Tal der Wolga.

Seine Kirche habe 1918 allen Anstürmen von Bolschewiki, Anarchisten, Atheisten und Banditen widerstanden, berichtet Atjez Johann. In all den Jahren der Christenverfolgung nach 1918 gab es hier jeden Sonntag Gottesdienst. Es waren glückliche Umstände, Zufälle, persönlicher Einsatz, materielle Opfer und immer wieder das Gebet, das dieses weithin einmalige Wunder vollbrachte, ist der Priester überzeugt. Und wie zum Beweis weist seine Hand in die weite Umgebung: Von den einst sieben Kirchtürmen, die von hier aus zu sehen waren, sind heute gerade mal noch zwei als Ruinen in der Ferne zu erkennen.

Wegen dieses Wunders ist die Kirche heute eine Wallfahrtsstätte. Besonders zu Ostern kommen die Gläubigen aus der weiten Umgebung zu Hunderten hierher. "Mit diesem Wunder hat Gott uns ein Zeichen gegeben: Er läßt uns auch in schwerer Zeit nicht allein. Wir können froh und voll Hoffnung in die Zukunft blicken!" Und Atjez Johann bekräftigt seine Rede, indem er geschickt an den verschiedenen Seilen ziehend ein harmonisches Glockenspiel erklingen läßt.

Wir steigen vom Turm herunter und gehen hinter die Ikonostase. Atjez Johann bricht das heilige Osterbrot und gibt mir ein Stück - als Geschenk, als göttliche Gabe, als Andenken. Dann nimmt er wieder die Axt in die kräftigen Hände. Er müsse weiterarbeiten, denn der Winter hier oben sei lang, und die Leute in der Kirche sollen nicht frieren. Der Berg der Holzscheite ist zwar schon so groß wie ein russisches Haus, aber das sei erst ein Drittel der nötigen Menge. Morgen müsse er außerdem auf seinen kleinen Acker. Frau und sechs Kinder habe er zu versorgen, und die Einnahmen aus Kerzenverkauf, von Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen sind gering. Kein Wunder bei einer so abgelegenen Kirche. Im nächsten Dorf baut er für seine Familie gerade ein Haus. Wir sollen im Herbst wiederkommen und ihn unbedingt besuchen. Die großen Augen strahlen Ruhe und Güte aus, und als wir weiterfahren, blickt er uns nach, froh und optimistisch.

Nach all dem Elend und Leid, das wir in der russischen Provinz gesehen haben, dem ständigen Niedergang in den letzten Jahren, dem tiefen Pessimismus, der das ganze Land befallen hat, waren wir froh, einem glücklichen, zufriedenen, tatkräftigen Menschen begegnet zu sein, einem orthodoxen Christen, der ganz vom Geist Gottes durchdrungen ist und von einer großen Hoffnung. Atjez Johann macht uns Mut. Wir werden für ihn beten und wir werden ihn besuchen, vielleicht schon im Herbst. Dann werden wir uns wie alte Freunde begrüßen, uns drücken und uns dreimal küssen ...

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 28 des 48. Jahrgangs (im Jahr 1998).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 12.07.1998

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