Zwischen Gewerkschaft und Gemeinde
Heinz-Gert Kretschmer
Verantwortung übernehmen - dazu ermutigten die Bischöfe die katholischen Christen in den neuen Bundesländern nach der Wende. Viele, die damals den Mut aufbrachten, sich politisch einzusetzen, sind nicht mehr dabei. Der 41jährige Heinz-Gert Kretschmer stellt sich den Herausforderungen noch immer: Er engagiert sich in der Gewerkschaft der Eisenbahner und im Betriebsrat des Ausbesserungswerkes der Deutschen Bahn in Cottbus. Außerdem ist er Mitglied des Pfarrgemeinderates, der Kinderkommission und der Küster- und Lektorengruppe der Cottbusser Christusgemeinde. In diesem Interview spricht er über seine Erfahrungen und seine Motivation.
Frage: Bei den letzten Betriebsratswahlen im Mai diesen Jahres stimmten zirka 80 Prozent der Wähler für Sie. Wie kamen Sie zu ihrem Engagement im Betrieb und zur Mitarbeit in der Gewerkschaft in ihrer Region?
Kretschmer: In der Wendezeit stellte ich bei einer Betriebsversammlung kritische Fragen an die Werksleitung. Als dann 1990 Gewerkschafts- und Betriebs-ratswahlen waren, drängten mich Kollegen zu kandidieren. Ich habe nie im Traum daran gedacht, eine größere Anzahl Stimmen zu bekommen. Jetzt bin ich Zweiter Bevollmächtigter der Ortsverwaltung der Gewerkschaft der Eisenbahner und stellvertretender Betriebsratsvorsitzender.
Frage: Waren Sie schon früher in leitenden Positionen?
Kretschmer: Nein, früher war ich nicht besonders engagiert. Ich arbeitete als Elektriker. In meinem Betrieb waren wir fast alle in der Gewerkschaft, aber öffentlich für etwas eingesetzt habe ich mich in dieser Zeit nie.
Frage: Nun haben Sie seit Jahren das Vertrauen ihrer Kollegen. Kann eine Gewerkschaft oder ein Betriebsrat heute wirklich noch etwas bewirken?
Kretschmer: Die Illusionen aus der Wendezeit erwiesen sich als unrealistisch. Planwirtschaft und "Sozialpolitische Maßnahmen der DDR" sind mit Marktwirtschaft nicht auf einen Nenner zu bringen. Schon deshalb waren viele Arbeitsplätze aus DDR-Zeiten einfach nicht zu halten. So sank von 1990 bis 1998 in unserem ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerk die Beschäftigtenzahl von 2300 auf 980. Dennoch gab es keine betriebsbedingten Kündigungen, sondern gestaffelt Abfindungen und einen Sozialplan mit Inte-ressenausgleich. Alle Besitzstände der Eisenbahner wurden gewahrt. Das ist unser Erfolg, aber einfach war das nicht. Zur Zeit versucht der Arbeitgeber, die bestehenden Besitzstände anzutasten. Das zu verhindern, wird ein hartes Stück Arbeit.
Frage: Ist mit solchen Erfolgen zwischen Ihnen und den Kollegen alles im Lot?
Kretschmer: Beileibe nicht. Es ist unmöglich, allen alles recht zu machen. Da gibt es berechtigte und unberechtigte Forderungen, sachlich und unsachlich vorgebracht. Das immer auszuhalten und trotzdem für alle da zu sein, ist schon eine Herausforderung.
Frage: Wie sieht der Kontakt mit den Kollegen konkret aus?
Kretschmer: Der Betriebsrat hat immer Sprechstunde. Das geht manchmal bis in die eigenen vier Wände, wenn Probleme brennen. Da geht es um Versetzungen, Tarifstreitigkeiten, Abmahnungen, Kündigungsschutzklagen oder das Arbeitsrecht ganz allgemein. Oftmals spielen aber auch ganz persönliche Dinge, wie Schulden oder Probleme in der Familie, eine Rolle. Die Kollegen kommen zu uns oder sprechen uns irgendwo im Werksgelände an.
Frage: Welche Fähigkeiten braucht man, um wirksam helfen zu können?
Kretschmer: Vieles mußte ich lernen. Dazu kommen die Erfahrungen, die man mit der Zeit sammelt. Wir haben gute Fachleute, mit denen wir selber sprechen oder an die wir weitervermitteln können. Wichtig ist aber immer: Zuhören können. Denn für denjenigen, der zu mir kommt, bin ich zu diesem Zeitpunkt der wichtigste Partner. Und oft sind es Außenseiter in der Gesellschaft, die nirgendwo so richtig Tritt finden.
Frage: Was machen Sie, wenn es trotz aller Anstrengung zu keiner Lösung des Konfliktes kommt?
Kretschmer: Im Extremfall geht es zum Gericht. Wenn es nötig ist, begleiten wir unsere Kollegen. Wir stellen über die Gewerkschaft aber auch ausgebildete Juristen zur Verfügung. Einiges konnte ich mir selbst aneignen. Über die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung bin ich seit 1991 ehrenamtlicher Richter beim Arbeitsgericht.
Frage: In einem Acht-Stunden-Tag ist das sicherlich nicht zu schaffen?
Kretschmer: Einen Acht-Stunden-Tag kenne ich nicht mehr. Vieles wäre aber leichter, wenn die ehrenamtliche Arbeit auf breitere Schultern verlagert werden könnte. Kritisieren, schimpfen, fordern das kann jeder. Selber etwas einbringen, Verantwortung übernehmen, da hört es oftmals auf. Und das tut weh. Aber meine Kollegen gaben mir für diesen Job das Vertrauen und ich habe zugesagt. Ich bin dankbar dafür, daß es immer wieder Menschen gibt, die mich mit ihrem ehrenamtlichen Engagement unterstützen.
Frage: Und was ist mit der eigenen Freizeit?
Kretschmer: Früher trieb ich gern regelmäßig Sport. Vor allem Leichtathletik. Zweimal nahm ich am Rennsteiglauf teil. Bei der Marathondistanz kam ich 1987 bei 10 000 Teilnehmern auf den 40. Platz. Das war schon was; aber nur möglich mit zwei mal täglich Training. Da muß ich jetzt kürzer treten. Ich laufe nur noch ab und zu und zum Ausgleich habe ich ein gutes Rennrad.
Bei meiner Freizeitplanung ist mir die Pfarrgemeinde mit ihren vielen Gleichgesinnten und vor allem meine Familie viel wichtiger als der Sport. Dafür suche ich mir dann schon meine Freiräume. Viel Freude habe ich beispielsweise bei der Vorbereitung der Kinderkirche, wenn wir statt Antwortgesang während der heiligen Messe mit den Kindern einen kleinen Sketch vorspielen. Das ist in unserer Gemeinde in der Advents- und Fastenzeit schon Tradition.
Frage: In der Pfarrgemeinde machen sie aber noch viel mehr?
Kretschmer: Ich bin außerdem noch im Pfarrgemeinderat und kann dort viele Erfahrungen im Umgang mit den unterschiedlichsten Ämtern und Problemen einbringen. Genauso in der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung, wenn es um Arbeitsrecht geht, oder bei den Christlichen Eisenbahnern. Dagegen erlebe ich im Kreis der fast 40 Küster unserer Gemeinde mit zwei Kirchen die heilige Messe viel intensiver und feierlicher.
Frage: Verausgaben Sie sich bei der Vielzahl ihrer Aktivitäten nicht?
Kretschmer: Dazu gehört schon Selbstkontrolle, Zeiteinteilung und das Abwägen von Wichtigem und weniger Wichtigem. Meine Frau, die selbst berufstätig ist, hat viel Verständnis für mich und meine Arbeit. Und auch meine Eltern und Schwiegereltern helfen mit. Besonders wenn die Kinder etwas mehr Zeit brauchen. Doch trotz der wenigen Zeit, ist es eine schöne Sache, in vielen Dingen vom Vertrauen getragen zu sein, anderen helfen zu können und wenn keine direkte Abhilfe möglich ist, ein Stück Partner zu sein.
Interview: Klaus Schirmer
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 12.07.1998