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Bistum Erfurt

Wird Kirche nicht mehr gebraucht?

Tagung:

Erfurt - Kommt letztlich niemand ohne Gott oder den Glauben an ein höheres Wesen aus? Oder gibt es Menschen - und davon vielleicht so manchen in den neuen Bundesländern - die sehr gut ohne Kirche und auch ohne die Frage nach einem Sinn jenseits dieser Welt klar kommen? Und dabei durchaus akzeptabel leben, sich für ihre Familie und ihre Mitmenschen einsetzen? Und wenn das so sein sollte - braucht dann eine Gesellschaft wie die deutsche gar keine Religion mehr und auf ihr basierende gemeinsame Grundwerte für alle?

Diese Fragen wurden gegen Ende einer Tagung zum Thema "Entkirchlichung als gesellschaftliche Herausforderung" diskutiert, zu der das Katholische Forum im Land Thüringen und die Evangelische Akademie Thüringen am 4. Juli nach Erfurt eingeladen hatten. Eine alle Teilnehmer zufriedenstellende Antwort wurde nicht gefunden, obwohl die meisten der christlichen Teilnehmer der Ansicht waren, daß sich jeder Mensch letztlich nach gelingendem Leben, nach Freude und Geborgenheit, nach einem Leben über den Tod hinaus sehnt und damit letzten Endes nach Gott, der allein dies schenken kann. Der Erfurter emeritierte Philosoph Konrad Feiereis, der die Diskussion moderierte, stellte die Frage, wie sich eine Gesellschaft oder die Menschheit überhaupt ohne gemeinsame, letztlich religiös fundierte Grundwerte, zum Beispiel auf die Einhaltung von Menschenrechten, verständigen wolle: Wer zum Beispiel bestimmt dann aufgrund welcher Ethik, daß Kinder im Mutterleib oder schwer geistig Geschädigte unangreifbare menschliche Personenwürde haben, fragte Feiereis.

Der aus dem Westen nach Leipzig übergesiedelte evangelische Kirchenhistoriker Ulrich von Hehl schilderte sehr anschaulich seine Beobachtungen bezüglich der atheistischen Weltsicht vieler Ostdeutscher. Besonders erschüttert habe ihn, daß auch Menschen, die lange schwerste Krankheit durchzumachen hätten, keinerlei Bedürfnis nach einer religiösen Sinngebung hätten, sagte von Hehl.

Nach Untersuchungen des Frankfurter evangelischen Kultursoziologen Detlef Pollack hängen Religiosität und Kirchlichkeit in Deutschland und Europa "sehr eng" zusammen. Auch wenn beide nicht identisch seien, so gelte: "Wenn die Kirchen an Bedeutung verlieren, dann tut das - jedenfalls zur Zeit noch - auch Religion."

Das sei kein Zufall, so der Wissenschaftler von der Europa-Universität Frankfurt (Oder), "bedarf doch jede religiöse Vorstellung der Veranschaulichung und der Konkretisierung und vermögen doch gerade religiöse Institutionen akzeptierte Bilder, Symbole, Räume, Zeiten, Rollen und Geschichten bereitzustellen, um das Unanschauliche der Religion zur Darstellung zu bringen". Vor diesem Hintergrund sei auch zu verstehen, daß nach der Wende der Sektenboom in Ostdeutschland weitgehend ausgeblieben ist. Pollack: Die Ursachen dafür liegen unter anderem darin, "daß viele Ostdeutsche vom Christentum bereits so entfremdet sind, daß ihnen alle religiösen Ideen und Vorstellungen suspekt und abseitig erscheinen". Der Kultursoziologe schlußfolgert: "Die hohen Austrittszahlen, die die Kirchen zur Zeit hinnehmen müssen, betreffen daher durchaus nicht nur die Kirchen selbst, sondern zeigen einen kulturellen Wandel an, der über die Kirchen weit hinausgeht."

Die von den Ausgetretenen oft als Grund genannte Kirchensteuer müsse in engem Zusammenhang zu anderen Austrittsmotiven gesehen werden. Als solche, so Pollack, würden genannt, "daß einem der Glaube nichts bedeutet, daß man in seinem Leben keine Religion braucht und daß die Kirche einem gleichgültig ist".

Nach Ansicht des Vechtaer katholischen Soziologen Karl Gabriel liegen wichtige Wurzeln der sich seit Jahren vollziehenden Entkirchlichung im vorigen Jahrhundert und sogar in der Zeit der Christianisierung Mitteleuropas. "Bis heute nachwirkende religiöse Mentalitätsunterschiede zwischen Nord und Süd lassen sich bis auf die gewaltsame Zwangsmissionierung im Norden Deutschlands in Differenz zu der in der Regel eher friedlichen Übernahme des Christentums im Süden zurückverfolgen.", so der Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie, Pastoralsoziologie und Caritaswissenschaft an der Katholischen Fachhochschule Vechta. Eine weitere Ursache für die wachsende Entkirchlichung sei die in Deutschland über Jahrhunderte verbreitete "besonders enge Verbindung von weltlicher und religiöser Herrschaft" und eine "ausgeprägte Untertanenmentalität seit dem Mittelalter", woran auch der reformatorische Umbruch nichts geändert und die ihren Höhepunkt im Österreich und Preußen des18./19. Jahrhunderts hatte. Die so geprägte Kirchlichkeit vor allem evangelischer Christen habe angesichts wachsender Liberalisierung und Bildung schon im 19. Jahrhundert gebrökelt. Deshalb sei es nicht verwunderlich, daß sie unter dem Druck der Nationalsozialisten und später des DDR-Systems erst recht ins Wanken kam, so Gabriel. "Der Pfad radikaler Entkirchlichung war dort vorgezeichnet, wo die vordem herrschaftsgestützte Religion nicht nur eine Privatisierung erfuhr, sondern - von der ehemals stützenden Staatsmacht stigmatisiert und bekämpft - aus dem öffentlichen Leben gänzlich ausgeschlossen wurde."

Gabriel zieht daraus den Schluß: Dort, wo die moderne Trennung von Religion und Politik nicht gleichzeitig zur Privatisierung der Religion führt, sondern ein lebendiger Faktor in der Gesellschaft bleibt und bleiben kann, hat sie die besten Entwicklungschancen. Gabriel: "Vom konsequenten Ankommen in der zivilen Gesellschaft könnte auch die Zukunft der Kirchen in Deutschland wie im übrigen Europa nicht unwesentlich abhängig sein." Doch auch ohne politischen Druck zehre gegenwärtig "die radikalisierte Privatisierung der kirchlichen Religion weiter an ihren Wurzeln." Deshalb komme es für die Kirchen dringend darauf an, sich auf ihre wesentlichen Aufgaben zu besinnen und an Ausstrahlungskraft in die Gesellschaft hinein zu gewinnen: In diesem Sinne müßten sich die Kirchen stärker als lebensnahe Zentren praktizierter Religiosität und geistlicher Kommunikation und als Orte des Einsatzes für die Schwächsten der Gesellschaft profilieren.

Eckhard Pohl

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 30 des 48. Jahrgangs (im Jahr 1998).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 26.07.1998

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