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Bistum Görlitz

Gegen Ausgrenzung in der Platte

Alternatives Projekt

Finsterwalde (fun) - Es war einmal ein Russenflugplatz. Ein großes Gelände mitten im Wald mit einer gut ausgebauten Infrastruktur: einem Krankenhaus, einem Schwimmbad, zwei großen Rollbahnen, Straßen, einem Fußballplatz, Verwaltungsgebäuden und vielen Wohnhäusern. Eines Tages verließen jedoch die russischen Offiziere und Soldaten mit ihren Familien diesen Ort und zurück blieben leere Gebäude, die dem Verfall preisgegeben wurden.

Für die Menschen, die Anfang der 90er Jahre aus Finsterwalde in diese vier Kilometer von der Stadt entfernten Neubaublöcke zogen, boten die Wohnungen ungewohnten Luxus: fließend warmes Wasser und eine Toilette in dem kleinen Heim zwischen Betonplatten. Daß diese damaligen "Luxuswohnungen" ein paar Jahre später einen sozialen Brennpunkt darstellen sollten, ahnten die wenigsten Bewohner.

Abgegrenzt von der Stadt Finsterwalde sind die sieben Neubaublöcke in der Fliegerstraße 23 oft Schauplatz diverser Straftaten. Diejenigen, die konnten, zogen aus. Diejenigen, die blieben, sind größtenteils arbeitslos, haben Schulden. Die freiwerdenden Wohnungen wurden mit Spätaussiedlern besetzt. Mit der Zeit häuften sich die nachbarlichen Rivalitäten. Nicht selten wurde die Polizei gerufen.

Beate Leis kennt die Entwicklung. Die Caritasmitarbeiterin war es auch, die dort vor genau einem Jahr den Bürgertreff ins Leben rief. "Es fiel mir auf, daß ein paar Frauen, die zu mir zur Beratung kamen, alle die gleiche Adresse hatten: Fliegerstraße 23." Als Leis sich diesen Ort ansah, war sie geschockt. Ihr wurde klar, daß für die Menschen, die auf dem Gelände des ehemaligen Flugplatzes der Roten Armee lebten, ein Ort geschaffen werden mußte, wo sie ihren Interessen nachgehen konnten, ohne andere zu stören; oder um einfach einmal aus ihrer kleinen Plattenbauwohnung heraus zu kommen.

Anfang Juni letzten Jahres stellte der Vermieter kostenlos drei Räume in einem leerstehenden Kiosk zur Verfügung. Mit einfachen Mitteln wurden daraus ein Gruppenberatungsraum, ein Kinderraum und eine Küche. Am 16. August konnte der Caritas-Bürgertreff eingeweiht werden. Bald darauf wurde mit der Tradition eines gemeinsamen wöchentlichen Frühstücks begonnen. "Mir war es wichtig, daß die Bewohner von Anfang an so viel wie möglich selbst machen und organisieren. Damit sie etwas zu tun haben und sich nicht zurücklehnen", sagt die 42jährige Diplom-Soziologin. Als Hilfe holte sie sich angehende Sozialarbeiter der Fachhochschule Lausitz, die den Bürger-Treff-Besuchern zur Hand gingen.

Heute hat das Frühstück neben anderen Projekten einen festen Platz. "Nachdem so viele Rußlanddeutsche hierher gezogen waren und sich die Mieter über den inbrünstigen vierstündigen Gesang beschwerten, haben wir mit ihnen abgesprochen, daß sie einmal die Woche im Bürgertreff Gottesdienst feiern können", erzählt Leis. Außerdem werden Beschäftigungsnachmittage für Kinder organisiert, Aerobicstunden angeboten, eine Rommé-Runde und eine Mädchengruppe trifft sich hier und eine Flugplatzzeitung entsteht in den Räumen des Treffs, die die Neuigkeiten vor Ort verkündet. Leis: "Wenn sie Hilfe von uns brauchen, organisieren wir ihnen gern etwas; ansonsten sollen sie alles selbst in die Hand nehmen. Bisher funktioniert das."

Doch die karitative Oase wird nicht nur für die Freizeitaktivitäten der Menschen sondern auch zur Beratung genutzt. Jeden Donnerstag haben die Bewohner die Möglichkeit, mit Beate Leis über ihre Probleme zu sprechen. "Hier herrscht eine ganz andere Atmosphäre als im Caritasgebäude in Finsterwalde. Dorthin würde kaum einer der Bewohner kommen. Hier in diesem ehemaligen Kiosk basieren die Gespräche auf einer ganz anderen Ebene: mehr persönlich als formell." Und wenn es im Winter kalt wird, ziehen die Bewohner der Flugplatzsiedlung in eine ebenfalls vom Vermieter zur Verfügung gestellte kleine, beheizbare Neubauwohnung um.

Nach einem Jahr hat sich das Projekt fast verselbständigt. Größtenteils kümmern sich die Bewohner um alles; stellen vieles auf die Beine. Finanzielle Unterstützung benötigen sie kaum. Wer mal etwas mehr Geld als sein Frühstücksnachbar hat, gibt einen Kaffee aus. Nächsten Monat ist es vielleicht umgekehrt. Die Küche in den für alle zugänglichen Räumen ist aufgeräumt und sauberer als manche Studentenwohnung. Die ganze Einrichtung besteht aus Haushaltsauflösungen oder Spenden. "Daß man mit wenig Geld auch etwas anfangen kann, mußten wir den Leuten hier erst einmal beibringen", erzählt Beate Leis, die zuvor in Berlin arbeitete und es von dort ganz anderes kennt. Vor allem unter den jungen Leuten kursiere ein unheimliches Konsumdenken. Ein Handy und ein Auto seien das Größte. Dafür werden auch Massen an Schulden hingenommen.

Doch diese Erfahrungen macht Leis nicht nur mit den Flugplatz-Bewohnern. Auch in das Caritashaus in Finsterwalde kommen Leute zu ihr, die wegen ihres Schuldenbergs kurz vor der Wohnungspfändung stehen. "Eben erst dann, wenn es richtig drückt", lautet Beate Leis Erfahrung. Folglich muß sie neben langen Gesprächen eine Unmenge an Papierkram erledigen.

Meist ab den Mittagsstunden haben die Mitarbeiter der Caritas mit ihren Klienten zu rechnen. Grund dafür ist die hohe Arbeitslosigkeit. In Finsterwalde sind über 30 Prozent der Menschen ohne Arbeit; viele von ihnen schon über mehrere Jahre. Beate Leis: "Mit der Zeit verlieren sie ihren Tagesrhythmus, da sie sich nach keinen Terminen mehr richten müssen." Auch wenn sich die Caritasmitarbeiter wünschen, daß die Termine eingehalten werden, finden Hilfesuchende dennoch immer einen Ansprechpartner. Und das wird genutzt. Dabei werden die Ratsuchenden wird immer jünger. Häufig sind es schon junge Leute unter 18 Jahren.

Insgesamt nutzen jedoch Menschen jeder Altersgruppe die Arbeit der Finsterwalder Caritas, die sich in drei verschiedene Bereiche gliedert: Sozialberatung (theoretisch), Sozialarbeit (praktisch) und Seniorenarbeit. Vor allem auf dem Gebiet der Sozialarbeit - hier stellt die Caritas den einzige Anlaufpunkt in ganz Finsterwalde dar - suchen die Klienten immer mehr Rat und Hilfe. Doch daran liegt es nicht allein: In jedem Bereich versuchen die Mitarbeiter bewußt auf das zu achten, was die Finsterwalder anspricht oder in Finsterwalde nötig ist. Der Bürger-Treff ist nur ein Resultat. Im Herbst sind dann die Rentner dran. Sie können ab Oktober alternativ kochen lernen.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 32 des 48. Jahrgangs (im Jahr 1998).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 09.08.1998

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