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Zisterzienserinnen auf der Spur

Am Wegesrand (Teil 6)

Hedersleben - Es ist erstaunlich: Allein im unmittelbaren östlichen Harzvorland gab es vier Zisterzienserinnen- und zwei Zisterzienser-Klöster. Eines davon war das St.-Gertrudis-Kloster in Hedersleben. Obwohl es nicht in die Straße der Romanik aufgenommen wurde, ist es einen Ausflug wert. Zehn Kilometer nordöstlich von Quedlinburg am Unterlauf der Selke gelegen, erwartet den Besucher in dem 2000-Einwohner-Dorf ein neun Hektar großes Klostergelände mit Kirche, Klausur- und anderen Wohngebäuden, Wirtschaftshof, Obstwiesen und Teich. Und: Was sich hier seit der Wende tut, macht dem praktischen Geist der Zisterzienser durchaus Ehre: Seit 1992 ist auf dem Klostergelände neben der katholischen Pfarrkirche das "Internationale Zentrum für Innovation, Qualifizierung und Gewerbeförderung" entstanden und wird weiter ausgebaut

"Bis auf kurze Zwischenzeiten wird hier am Ort seit rund 1000 Jahren die heilige Messe gefeiert", erzählt der Hederslebener Pfarrer Wolfgang Golla. "Nach der Aufhebung des Klosters 1810 hat es in Hedersleben mal für 20 Jahre keinen eigenen katholischen Seelsorger gegeben, so daß der Ort zur Pfarrei Adersleben gehörte. Aber eine katholische Gemeinde gab es hier immer."

Hedersleben gehört zu den 17 Klöstern in der Region, in denen bis zur Säkularisation katholische Ordensleute lebten. Als die Klöster aufgrund des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803 aufgelöst wurden, konnte zumindest die zuvor von den Klöstern geleistete Pfarrseelsorge fortgeführt werden

Entstanden ist Kloster Hedersleben in der Mitte des 13. Jahrhunderts. "Als die Brüder Albert und Ludwig von Hakeborn dem Zisterzienserorden 1253 das Land um Hedersleben für eine Klostergründung vermachten, hatte der Ort bereits eine Pfarrkirche, erzählt Pfarrer Golla. Vermutlich war es die Helftaer Äbtissin Gertrud von Hakeborn, die dann 1262 zwölf Zisterzienserinnen ihres Klosters nach Hedersleben sandte. Als Patronin erhielt das Frauenkloster die heilige Gertrud von Nivelles, eine Tochter des fränkischen Hausmeiers Pippin des Älteren, die 639 nördlich von Brüssel das Kloster Nivelles gegründet hatte. Schenkungen, Vermächtnisse und Käufe ließen das St.-Gertrudis-Kloster Hedersleben erstarken. 1267 wurde der Abtei die Pfarrseelsorge übertragen

Erst 1565 übernahmen zahlreiche Bewohner Hederslebens das lutherische Bekenntnis, die Zisterzienserinnen blieben katholisch. Die Abtei- und Pfarrkirche wurde zur Simultankirche erklärt. Das Kloster war weiterhin seelsorglich für die katholischen Christen zuständig. Zugleich übte es für die evangelische Gemeinde die Patronatsrechte aus. Während des Dreißigjährigen Krieges plünderten die Schweden die Abtei und richteten erhebliche Verwüstungen an

1780 entstand ein neues großzügiges Klausurgebäude mit Kreuzgang, das bis heute erhalten ist. In dieser Zeit wurden auch neue Wirtschaftsgebäude und das repräsentative Torhaus errichtet. Doch nur 30 Jahre später wurde die Abtei mit damals 17 Ordensfrauen durch die westfälische Regierung aufgelöst und die Pfarrgemeinde 1812 widerrechtlich der Pfarrei Adersleben zugeordnet. Der neue Besitzer des Klosters, Oberamtmann Heine aus Gröningen, fühlte sich - zu Unrecht - auch als Besitzer des Gotteshauses. Obwohl sich die Gemeinde wehrte und das zuständige preußische Ministerium 1816 entschied, die Kirche solle Pfarrkirche bleiben, ließ er das Gotteshaus schließen, verfallen und das Kirchenschiff 1825 abreißen. 1841 erlaubte der preußische König die Wiedererrichtung der Pfarrei und den Bau eines um die Hälfte kleineren neuen Gotteshauses. So ist die heutige Pfarrkirche erst 152 Jahre alt, ihr Turm jedoch stammt aus der Zeit um 1250

Das benachbarte Klostergelände wurde landwirtschaftliches Gut und später LPG. Im Klausurgebäude war in den 30er Jahren bis zur Schließung durch die Nazis eine katholische Schule und später eine Polytechnische Oberschule untergebracht. Zuletzt diente es im Sommer als Wehrerziehungslager, wie sich der Hederslebener Dr. Harry Stolte erinnert. Stolte rief 1992 den Verein "Internationales Zentrum für Innovation, Qualifizierung und Gewerbeförderung" ins Leben. Der Verein hat sich die Belebung des Klosterareals zu einem Kultur- und Bildungszentrum zum Ziel gesetzt und inzwischen durch ehrenamtliches Engagement, verschiedenste Fördermittel und insgesamt 250 ABM viel erreicht: Im Torhaus und in einstigen Ställen wurden moderne Zimmer mit Naßzellen geschaffen. Das Klausurgebäude bietet Seminar- und Vortragsräume. Auf dem Klostergelände finden Seminare für Stipendiaten aus Afrika und Asien zu Umwelt- und Energiethemen statt. Umweltprojekte auf dem Gelände wie die Pflanzenkläranlage, ein Umweltlabor und die Biomasseheizung bieten gute Anschauungsmöglichkeiten. Zum anderen finden Führungen durch das Kloster statt (Tel. 03 94 81 / 3 15). Zu sehen ist außerdem eine alte Schmiede und eine Naturausstellung. Regelmäßig finden Konzerte statt

"Wir versuchen, Intentionen der Zisterzienser ins Heute zu übertragen und so eine Brücke aus der Vergangenheit in die Gegenwart und Zukunft zu schlagen", sagt Dr. Stolte. Pfarrer Golla freut sich über seine engagierten Nachbarn. Schließlich findet so mancher Gast auch in die einstige Klosterkirche

E. Pohl

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 35 des 48. Jahrgangs (im Jahr 1998).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 30.08.1998

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