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Aus der Region

Sissi-Mythos wird ihr nicht gerecht

Elisabeth von Österreich

"Sie haben eine Verzweifelte umgebracht", sagte der Untersuchungsrichter zu dem italienischen Anarchisten Luigi Lucheni, der am 10. September 1898 Kaiserin Elisabeth von Österreich am Genfer See ermordete. Lucheni antwortet: Ich dachte, eine Glückliche dieser Welt zu töten" In dieser Szene spiegelt sich eine bittere Ironie. Lucheni traf seine Wahl", doch mit Elisabeth ermordete er - wenn es sich so sagen läßt - eigentlich eine Gesinnungsgefährtin". Eine Frau, die ihrer Schicht längst entwachsen war, die unglücklich an der Welt litt und zerbrach

Die Grundzüge der Biographie Elisabeths wurden oft wiederholt. Geboren am Heiligabend 1837, die Verlobung mit Franz Joseph in Ischl, die Hochzeit mit nur 16 Jahren 1854, schließlich ihre Leidenszeit am Hof Aus diesen Daten und viel Phantasie entstand ein Sissi-Mythos, der ihrem Denken und Leben in keiner Weise gerecht wird

Für den französischen Essayisten Emile N. Cioran gibt es im 19. Jahrhundert zwei Gipfel der Melancholie: Brahms und Sissi. In einem Gepräch aus dem Jahr 1983, erschienen als Begleittext zu den Tagebüchern des Vorlesers Constantin Christomanos (Insel-Verlag), sagte er: Wenn die Melancholie der einzige Maßstab wäre, um die Geister zu beurteilen, ließe sich Sissi als Gestalt ohne weiteres mit Brahms vergleichen. Aber selbstverständlich geht es hier nicht um die Frage des Genies, sondern um eine gefühlsmäßige Analogie. Sissi war nicht besonders begabt, und soviel ich weiß, hat sie sich nie um Brahms' Musik gekümmert, aber die Melancholie hat sie so geprägt, daß man sie deshalb mit ihm vergleichen kann."

Zur Zeit ist in der Hermesvilla im Lainzer Tiergarten (Wien) eine Ausstellung zu sehen, die unter dem Titel Keine Thränen wird man weinen" diese Aspekte verdeutlicht. Beispielsweise durch die Lyrik Elisabeths, die sie in ideeller Nachfolge Heines verfaßte. Zwei Beispiele: Du stilles Leben unter hohen Bäumen, / Wo unbemerkt die Stunden flüchtig zieh'n! / Ich wandle hin in einem Wald von Träumen / Und ahne nicht, dass meine Jahre flieh'n" (1887) und Ich bin so scheu wie meine Rehe, / Und wie die weisse Damhirschkuh / Entflieh' ich, wo ich Menschen sehe / In meines Waldes grüne Ruh'!" (1888). Inneren Halt fand sie in einer eigenen Welt, in der die griechische Mythologie eine große Rolle spielt. So sprach sie zu Christomanos über Achilles: Er hat nur seinen eigenen Willen heilig gehalten und nur seinen Träumen gelebt, und seine eigene Trauer war ihm wertvoller als das ganze Leben." In diesem Satz liegt viel von der wirklichen Elisabeth, die den Menschen ihrer Zeit genauso fremd ist wie den meisten Menschen heute

Dennoch setzte sie große Hoffnungen auf das Verständnis der Zukunftsseelen. Ihnen widmete sie ihre Gedichte, die sie für 60 Jahre in der Schweiz hinterlegte, um sie vor fremden Zugriff zu schützen. In einem eilig dahinsausenden Extrazug" schrieb sie: Liebe Zukunftsseele, Dir übergeb ich diese Schriften. Der Meister (Elisabeth meint Heine) hat sie mir diktiert. vom Jahre 1890 an in 60 Jahren sollen sie veröffentlicht werden zum besten politisch Verurteilter u. deren hülfebedürftigen Angehörigen. Den in 60 Jahren so wenig wie heute werden Glück u. Friede, das heißt Freiheit auf unserem kleinen Sterne heimisch sein." Brigitte Hamann konnte kürzlich als Herausgeberin der Gedichte diesen Willen erfüllen

Elisabeth von Österreich war ein Mensch, der die Zerrissenheit seines und des kommenden auf besondere Weise wiederspiegelt. Heimatlos trieb es sie über die Erde. Ersatz für Menschen fand sie in der Natur, beispielsweise in einem Baum im ungarischen Gödöllö, den sie ihren Vertrauten" ihren besten Freund nannte. Abschließend noch einmal E.M. Cioran: Sie erinnert an eine Seherin, ja, an die Stimme des Orakels: fern von allen und doch durchschauend. Ich würde sagen, daß Elisabeth eine Mischung aus Romantik und Antike darstellt."

Holger Jakobi

Lesetip: Egon Caesar Conte Corti, Elisabeth", Styria-Verlag Graz 1998, 43. neugestaltete Auflage, 48 Mark, ISBN 3-222-12564-3

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 36 des 48. Jahrgangs (im Jahr 1998).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 06.09.1998

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