Halle wurde zum "Spendenverteilzentrum" der Caritas
Berlin-Blockade
Prälat Franz Wüstefeld, der seit vielen Jahren in Paderborn lebt, ist einer der wenigen überlebenden Zeitzeugen, die sich noch an die Caritasarbeit der Nachkriegsjahre in Halle erinnern können. Der 85jährige Priester bezeichnet seine Amtszeit als Caritasdirektor für den Südteil des heutigen Bistums Magdeburg als "eine Zeit der schnellen und unbürokratischen Hilfe"
Schon während des Krieges war die organisierte Arbeit der Caritas auf dem Gebiet der späteren DDR stark gefordert, durch Zerstörungen und durch den Zuzug der vor den Fronten in West und Ost "Evakuierten". Unmittelbar nach dem Krieg aber stand die Caritas vor Aufgaben bisher nicht bekannter Größe: Millionen aus dem Osten Vertriebener kamen meist mit nichts anderem als dem, was sie auf dem Leib trugen. Alten- und Kinderheime waren dringlichst einzurichten, oftmals zunächst als Notlösungen. Kindergärten und Krankenhäuser brauchten Hilfe. Die Priester riefen um Hilfe für ihre oft um das Drei- bis Vierfache gewachsenen Gemeinden
Hauptamtliche Caritasdirektoren, Fürsorgerinnen und viele ehrenamtliche Mitarbeiter versuchten, gegen die Not anzugehen. Sie waren nicht alleingelassen. Lange vor der Luftbrücke entstand eine "Landbrücke der Liebe" vom westlichen Ausland bis in die Sowjetzone. Spenden kamen in kleinen Paketen, aber auch mit Lastzügen, unter anderem vom Vatikan. Unermüdlich war die Fürsorge des Papstes Pius XII. Seine Haushälterin war eine deutsche Ordensschwester. Die größten Helfer wurden die Katholiken aus den USA. Auch aus der Schweiz, aus Dänemark und aus den westlichen Besatzungszonen, die noch lange nicht der "Goldene Westen" waren, kamen Spenden
Die Transporte enthielten Lebensmittel, Kleidung, Stoffe, Schuhe und Medikamente. Sie kamen in West-Berlin im Zwischenlager Wittenau an und wurden nach Schlüsselzahlen an die Caritasverbände der Ostzone weitergeleitet. Die Hauptstelle des Caritasverbandes für ganz Berlin und die spätere DDR befand sich damals in der West-Berliner Bayernallee 28 unter Leitung des ehemaligen Caritasdirektors der Diözese Breslau, Prälat Johannes Zinke. Die Verteilungsarbeit der Caritas wurde durch die sowjetischen Besatzer in der Regel nicht behindert. Sie bewilligten für die Transporte auch ausreichend Treibstoff
Dann begann die Blockade West-Berlins. Sie erforderte neue Wege der Hilfe. Halle, die Hauptstadt der Provinz Sachsen-Anhalt, hatte im Krieg kaum Bombenschäden erlitten. Die Caritas bekam dort als Zentrale das große Haus einer "schlagenden" Studentenverbindung zugesprochen mit Festsaal, Paukboden und anderen Möglichkeiten des Lagerns und der Verwaltung
Alle Caritastransporte in das gesamte Ostgebiet liefen fortan Halle an. Zehn-, 20-, und 50-Tonnen-Transporte hielten vor dem Caritashaus August-Bebel-Straße 40, nicht nur einmal im Vierteljahr, sondern bis zu dreimal in der Woche. Zeitgenaue Voranmeldungen waren kaum möglich. Meistens scheiterten sie an den zeitraubenden Abfertigungen auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze. Ein Beispiel für viele: Gegen 19 Uhr rief man von der Zonengrenze aus an: "Wir warten auf die Abfertigung und hoffen, gegen 21 Uhr in Halle zu sein." Und dann wurde es doch 24 Uhr. Eine Helfertruppe, die man auch spät abends noch zusammenbringen konnte, war diese: Der Studentenpfarrer und spätere Erfurter Bischof Hugo Aufderbeck, eine bei Aufderbeck konvertierte Professorenfrau, die Frau unseres kranken Hausmeisters, ein Student aus dem Nebenhaus, die Cousine und Haushälterin des Caritasdirektors Wüstefeld, die Lehrerin Lidwina Wüstefeld, und der Caritasdirektor selbst
Reis-, Mehl- und Zuckersäcke wogen 200 englische Pfund, das sind 92 Kilo. Hugo Aufderbeck konnte diese Säcke auf den Rücken nehmen und in das obere Stockwerk tragen - oftmals 20 bis 30 Säcke hintereinander. Einen Aufzug gab es nicht. Kisten mit den gebrauchten amerikanischen Militärschuhen wogen sogar 135 Kilo. Diese waren, auf gleiche Art die Treppen hoch, dem Caritasdirektor vorbehalten. Einmal kam ein Transport, der neben anderen Spenden 360 Kartons mit Fleischdosen à 30 Kilo enthielt. In einer Menschenkette brachte jeder Helfer 60 Pakete in das Lager
Auch die amerikanische Care-Organisation hatte den Deutschen Caritasverband ausgewählt, um die berühmten Care-Pakete an feste Empfänger in der russischen Besatzungszone zu überbringen. Dafür bekam die Caritas für 100 solcher Pakete zehn als Lohn. In diesen Paketen waren auch Raritäten: Kaffee, Tee, Schokolade und andere schöne Dinge für Kranke, Alte und Kinder
Wenn die Transporte nach drei bis vier Stunden abgeladen waren, gab es Essen. Die Fahrer hatten in der Regel Verpflegung dabei, die für alle Helfer reichte. Die Cousine des Caritasdirektors kochte. Und oft war es für sie dann Zeit, daß sie ihre Tasche nahm und zur Schule fuhr
Bei der Weiterverteilung der Spenden in die gesamte Ostzone standen an erster Stelle die kirchlichen Kinder- und Altenheime. Die Caritas hatte einen Lastwagenbesitzer engagiert, der vieles ausfuhr. Franz Wüstefeld hat die Caritasarbeit der Nachkriegszeit noch in lebhafter Erinnerung. Er selbst kam damals zu einer "richtigen" Familie. Gemeinsam mit seiner Cousine nahm er vier elternlose Flüchtlingskinder auf
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 20.09.1998