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Pater Damian

Bettler vor Gott mit leeren Händen?

Pater Damian Meyer Dass wir alle vor Gott Bettler sind und unsere leeren Hände zu ihm hinstrecken, ist den meisten Christen ein vertrauter Gedanke und setzt sich in die tägliche Gebetspraxis um. Jesus selbst legt uns ja im Gebet des Herrn die Bitte in den Mund: "Unser tägliches Brot gib uns heute." Im Gleichnis vom bittenden Freund ermuntert er uns, Gott vertrauensvoll um alles zu bitten, was wir brauchen, auch wenn es um relativ banale Dinge geht.
Bedürftigkeit gehört zu unserem geschöpflichen Dasein. So entspricht das Bittgebet uns Menschen im Tiefsten und ist keine entwürdigende Kriecherei, und wir brauchen keine Angst zu haben, dabei eine schlechte Figur zu machen. Warum nicht? Weil Gott - der die Liebe ist - alles, was er besitzt, mit uns teilen möchte: Seine Liebe, sein Schaffen, sein Lenken. Er will, weil er die Liebe ist, nichts ohne uns tun. Durch unser Bitten gestalten wir an jener Zukunft mit, die Gott für uns vorgesehen hat. Was vor uns liegt, ist nicht einfach festgelegt durch schicksalhafte Zwänge und durch Gottes Vorausbestimmung.
Gott wirkt durch uns und mit uns, nicht einfach an uns vorbei. Mit anderen Worten: Es ist ihm nicht gleichgültig, was wir einbringen, wie wir unsere Talente und Kräfte einsetzen. Unsere gefalteten Hände müssen in gebende und handelnde verwandelt werden. Bei der Speisung der Fünftausend sagt Jesus zu seinen Jüngern: "Gebt ihr ihnen zu essen!" Dennoch ist das göttliche Handeln nicht identisch mit unseren eigenen Anstrengungen und Möglichkeiten. Gott kann das Wenige und Geringe, das wir in unseren Händen tragen, und den Kleinmut unseres Herzens verwandeln in Fülle und Kostbarkeit. Ganz leer sind unsere Hände nicht. Jeder hat etwas zu bieten, das Gott brauchen und verwandeln kann. Er gibt sich uns ganz, wenn wir bereit sind, uns ganz ihm zu geben.
Eine orientalische Legende stellt diese Wahrheit so dar: "Ich ging als Bettler von Tür zu Tür die Dorfstraße entlang. Da erschien in der Ferne dein goldener Wagen wie ein schimmernder Traum, und ich fragte mich, wer dieser König der Könige sei. Hoffnung stieg in mir auf: Die schlimmen Tage schienen vorüber; ich erwartete Almosen, die geboten wurden, ohne dass man um sie bat, und Reichtümer, die in den Sand gestreut wurden. Der Wagen hielt an, wo ich stand. Dein Blick fiel auf mich, und mit einem Lächeln stiegest du aus. Endlich fühlte ich mein Lebensglück kommen. Dann strecktest du plötzlich die rechte Hand aus und sagtest: ,Was hast du mir zu schenken?' Welch königlicher Scherz war das, bei einem Bettler zu betteln! Ich war verlegen, stand unentschlossen da, nahm schließlich aus meinem Beutel ein winziges Reiskorn und gab es dir. Doch wie groß war mein Erstaunen, als ich am Abend meinen Beutel umdrehte und zwischen dem wertlosen Plunder das kleine Korn wiederfand - zu Gold verwandelt. Da habe ich bitterlich geweint, und es tat mir leid, dass ich nicht den Mut gefunden hatte, dir alles zu geben." (von Rabindranath Tagore).

Pater Damian Meyer

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 10 des 51. Jahrgangs (im Jahr 2001).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 11.03.2001

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