Die andere Art, Israel kennenzulernen
Arbeiten im Kibbuz
Israel, das Land voller Gegensätze und Widersprüche, ist vielen eine Reise wert. Die meisten kommen für zwei, drei Wochen, um sich die religiösen Stätten, das Tote Meer und Jerusalem anzuschauen. Doch es gibt für junge Leute eine andere Möglichkeit, das "Heilige Land" genauer und intensiver kennenzulernen: als Volontär in einem Kibbuz
Für mindestens zwei Monate kommen jedes Jahr mehrere hundert Jugendliche aus der ganzen Welt nach Israel. Nur für ein Taschengeld, eine einfache Unterkunft und Vollverpflegung wollen sie in dieser Zeit in einem Kibbuz arbeiten und leben. Kibbuzim (die Mehrzahl von Kibbuz) sind einfache ländliche Dorfgemeinschaften. Ein Kibbuz basiert auf Kollektivarbeit, Kollektiveigentum und einfachem Lebenstil (siehe Kasten). Die Mahlzeiten werden gemeinsam im Speisesaal eingenommen. Dieser Saal ist zugleich Versammlungsraum und Treffpunkt der Kibbuzniks. Diese Lebensweise ist für die meisten Volontäre gewöhnungsbedürftig
Obwohl die Büros, die Volontäre vermitteln, darauf hinweisen, glauben viele der Jugendlichen, ein Kibbuzaufenthalt sei wie verlängerte Ferien mit ein wenig Hausarbeit. Dem ist nicht so. An Schlafmangel leidet wahrscheinlich jeder Volontär. Früh um sechs beginnt für die meisten der Arbeitstag. Mindestens sieben Stunden am Tag verrichten Volontäre Arbeiten, die nicht viel "Vorübung" brauchen. Im Kibbuz Sdeh Nehemia im Norden von Israel zum Beispiel arbeiten die Volontäre in der Küche, an einer riesigen Geschirrspülmaschine, im Garten, in der Wäscherei und auf den Kiwi- und Baumwollfeldern. Nur der Samstag, der Sabbat, ist für alle frei
Obwohl die Arbeit zum Teil sehr anstrengend und zum Teil auch sehr eintönig ist, kann das Leben in einem Kibbuz für junge Menschen eine schöne Erfahrung sein. Keiner arbeitet allein und innerhalb kürzester Zeit lernt man Menschen aus aller Welt kennen. Die meisten Volontäre kommen aus Skandinavien, Südafrika und Westeuropa. Die Volontäre leben im Kibbuz in einem eigenen Bereich: der Volontärsarea. Für manchen entsteht deshalb das Gefühl, ausgeschlossen von der wirklichen Kibbuzgemeinschaft zu sein
Es ist schwierig, die eigentlichen Bewohner kennenzulernen. Die meisten Kibbuzniks sind sehr verschlossen. Sie wollen sich ihren Lebensalltag in ihrer kleinen dörflichen Gemeinschaft nicht durcheinanderbringen lassen. Für sie ist das Leben in ihrem Kibbuz alltäglich. Sie wollen sich den Volontären nicht "erklären" müssen. Wenn sich zum Beispiel ein Volontär in eine junge Israelin aus dem Kibbuz verliebt, hat der Kibbuz Angst, daß diese Frau das Dorf vielleicht verläßt. Die Kibbuzim haben nämlich inzwischen oft Nachwuchssorgen. Der Anteil der alten Leute in einem Kibbuz ist außerordentlich hoch
Viele Volontäre tragen zum Mißtrauen und Desinteresse der Kibbuzniks bei. Ein Beispiel: Wenn eine Flasche Wodka umgerechnet nur knapp drei Mark kostet, wird manche Nacht leicht zum Trinkgelage. Ein betrunkener Volontär am nächsten Tag bei der Arbeit wird kaum dazu beitragen, daß die Kibbuzniks positiv von ihren Volontären denken. Trotzdem kann jeder Volontär mit etwas Feingefühl auch mit Kibbuzniks in Gespräch kommen. Bei der Arbeit ist man mit ihnen zusammen
Für die Volontäre gibt es einen Volontärsleiter. Er kümmert sich um sie, beantwortet Fragen und ist Ansprechpartner für alle Bereiche
Ein Kibbuz ist ideal, um von hier aus das Land zu erkunden. Viele Kibbuzim veranstalten für die Volontäre eigene Ausflüge und Exkursionen. Diese führen meist an Orte, wo sonst kaum ein Tourist hinkommt und sind zudem meist kostenlos. Außerdem hat jeder Volontär im Monat eine bestimmte Zahl von Tagen frei. Zu fast jedem noch so kleinen und abgelegenen Ort gibt es eine gute Busverbindung. Oft trifft man bei diesen Ausflügen junge Leute, die in einem anderen Kibbuz als Volontär arbeiten. Gespräche über deren Erfahrungen und die vielen Hinweise wie "da mußt du unbedingt noch hin" und "das lohnt sich überhaupt nicht" lassen schnell die Strapazen der Arbeit vergessen. Noch eines erfahren viele Volontäre bei ihrem "Urlaub" im Kibbuz: das neue Gefühl in einem fremden Land nicht nur als "Normalo-Tourist" zu sein, sondern wirkliche und tiefe Einblicke in das Leben in diesem faszinierenden und zugleich fremdartigen Land zu erhalten
Wer zwei Monate in Israel lebt, macht hautnahe Erfahrungen: gute und schlechte. Da ist der israelische Koch, der sich über gute Arbeit freut und sagt: "Du fängst an, ein echter Kibbuznik zu werden". Da ist der 19jährige Israeli aus dem Kibbuz, der meint: "Nach Akko dürft ihr nicht fahren. Das ist eine alte dreckige Araberstadt." Der alte jüdische Mann im Bus, der erst schreit: "Hört auf deutsch zu sprechen. Diese Sprache tut mir weh.", und dann nicht glauben kann, daß auch deutsche Jugendliche in einem jüdischen Land arbeiten wollen, ist unvergeßlich
Die Schwierigkeiten, mit denen Israel zu kämpfen hat, spüren Volontäre auch im Kibbuz. Der Kibbuz Sde Nehemia liegt nah an den Golan-Höhen. Hier säumen oft noch die Schilder "Vorsicht Minengefahr" Wiesen und Ackerböden. Beim Kindergarten im Kibbuz ist der Kinderbunker. Die grauen Wände sind mit bunten Bildern behangen. Ein paar Kinderbettchen stehen im Raum
Eines Abends ruft der Volontärsleiter alle Volontäre zusammen: "Heute abend ist Schutzübung." Vor zwanzig Jahren hätten sich arabische Terroristen in den Kibbuz geschlichen und über dreißig Kinder getötet. Seitdem gibt es eine Nacht im Jahr eine Schutzübung mit Alarm, Gewehren, Flutlichtern, Soldaten und ein paar Volontären, die erschrocken und schweigend im Volontärsraum sitzen
Als Volontär in Israel zu arbeiten, ist eine unvergeßliche Erfahrung und macht nachdenklich. Beim Abschied heißt es für viele auch "Aufwiedersehen" sagen zu einem Land, das für ein kleines Lebensstück Heimat war und das man in Zukunft nicht nur mit Nachrichtenmeldungen über den Nahostkonflikt sondern mit Menschen, Schicksalen und Sehnsucht verbindet.
Julia Kuttner
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 27.09.1998