Zurückgeblättert
Novalis: Auf der Suche nach der blauen Blume
Die "blaue Blume" ist zum Begriff für die deutsche romantische Dichtung geworden. Sie stammt aus dem Fragment gebliebenen Roman "Heinrich von Ofterdingen" des Dichters Novalis. Als Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg wurde er 1772 in Oberwiederstedt in der Nähe von Mansfeld geboren. 1790 schrieb er sich als Student an der juristischen Fakultät der Universität Jena ein, hörte aber mehr Vorlesungen über Philosophie und Geschichte als über Rechtswissenschaft. Er schloss sich eng an Schiller an, der eine Professor für Geschichte inne hatte. Unter Schillers Einfluss entstand das erste veröffentlichte Gedicht Hardenbergs. Nach zwei Semestern wechselte er nach Leipzig, wo er mit dem gleichaltrigen romantischen Dichter Friedrich Schlegel Freundschaft schloss.
1794 beendete er sein Studium in Wittenberg und arbeitete beim Kreisamtmann in Tennstedt. Auf dem nahen Gut Grüningen lernte er die zwölfjährige Sophie von Kühn kennen. Er verlobte sich heimlich mit ihr. Ihr früher Tod 1797 nach einem qualvollen Lungenleiden stürzte ihn in tiefe Verzweiflung und formte ihn gleichzeitig zum bedeutendsten deutschen romantischen Dichter. Unmittelbarer Ausdruck seines Leids sind die "Hymnen an die Nacht" mit dem berühmten Anfang "Welcher Lebendige, Sinnbegabte liebt nicht vor allen Wundererscheinungen des verbreiteten Raums um ihn das allerfreuliche Licht?" Aber der Trauernde ersehnt die Nacht. Weil der Tag mit seinen Forderungen, seiner "unseligen Geschäftigkeit" und Oberflächlichlkeit den Menschen nicht zu den "Wohnungen der Seligen" gelangen lässt, ruft er aus: "Muss immer der Morgen wiederkommen? Endet nie des Irdischen Gewalt?" Die Nacht erscheint als der Urgrund allen Seins. Steht in den ersten Hymnen noch die Sehnsucht nach der Geliebten im Mittelpunkt, erscheint in den letzten Hymnen Christus als der Überwinder des Todes. Der Roman "Heinrich von Ofterdingen" ist auch als Gegenstück zu Goethes "Wilhelm Meister" entworfen. Heinrich, ein Eisenacher Bürgersohn erblickt im Traum die blaue Blume. Da sie ihm "ein zartes Gesicht", das heißt: ein schönes Mädchen, und alle Seligkeit verheißt, zieht er aus, um sie zu suchen. Wie in seinem großen Essay "Die Chris-tenheit und Europa" verklärt er auch hier unkritisch das katholische Mittelalter. Die Reformation und die Französische Revolution von 1789 zerstörten nach Novalis Auffassung das ursprünglich politisch, religiös und kulturell geeinte Europa. Er ruft zu einer neuen Reformation auf, die Europa wieder einen soll. "Sollte es nicht in Europa bald eine Menge wahrhaft heiliger Gemüter wieder geben?"
Novalis starb, noch nicht 29-jährig, ebenfalls an einem Lungenleiden am 25. März 1801 in Weißenfels. Sein früher Tod, der Tod seiner Verlobten und die von keinem anderen deutschen Romantiker erreichte Farbigkeit seiner Werke, die Suggestivkraft seiner Sprache sowie die Vielseitigkeit seiner Beschäftigungen (er war Salinenassessor und wurde kurz vor seinem Tod zum Amtshauptmann ernannt) machten ihn zu einer Lieblingsgestalt der deutschen Literatur. Im Zeitalter der europäischen Einigung lohnt es sich besonders "Die Christenheit und Europa" noch einmal zu lesen. Seine melodiösen Gedichte gehören zum unverlierbaren Schatz deutscher Lyrik.
Jürgen Israel
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 18.03.2001