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Bistum Magdeburg

Vom Wasser der Wolga wird man nicht satt

Partnerschaftsaktion Ost

Magdeburg (tdh) - In diesen Tagen fährt eine Delegation der Partnerschaftsaktion Ost zum wiederholten Male in die russische Stadt Tutajew an der Wolga. Mit dabei ist Ordinariats-Mitarbeiterin Edith Giebson, die erst Ende Juli von einem dreimonatigen Tutajew-Aufenthalt nach Magdeburg zurückkehrte. Sie berichtet von ihren Erfahrungen beim Aufbau einer Suppenküche:

"Seit 1992 sind wir regelmäßig zweimal im Jahr, im Frühjahr und im Herbst, nach Tutajew gefahren und konnten am Beispiel dieser Stadt den rapiden Zerfall einer ganzen Gesellschaft verfolgen. Gerade die persönliche Bekanntschaft mit vielen, vielen Menschen hat uns die ganze Tragik deutlich gemacht. Es ist kein seltener Anblick, daß alte Leute oder Kinder in dreckigen Müllcontainern nach Essensresten suchen. So entstand der Wunsch, nicht nur zweimal im Jahr als Ehrengäste dort zu sein, sondern durch Miteinanderleben die Menschen besser kennen und verstehen zu lernen

Wir beschlossen, der Stadtverwaltung die Einrichtung einer Suppenküche vorzuschlagen und fanden für unser Angebot offene Ohren. Als örtlicher Träger und Partner bot sich der Invalidenverein an. Dem stimmten wir zu, denn behinderte und alte Menschen stehen auf der letzten Stufe der sozialen Leiter. Sie können nichts kaufen und auch nicht mehr im Garten arbeiten. Manche sind auch psychisch nicht mehr in der Lage, sich selbst zu versorgen

Das Projekt nahm Gestalt an, und wir fanden damit Unterstützung bei der Hilfsaktion Renovabis. Von dort wurden uns 10 000 Mark für Anschubfinanzierung und Erstausstattung zugesagt. So konnte die Sache beginnen. Der erste Anblick der für die Suppenküche vorgesehenen Räume versetzte mir einen Schock. Das Gebäude war eine ehemalige Kindereinrichtung und hatte einige Jahre leer gestanden. Die obere Etage, wo die Suppenküche eingerichtet werden sollte, glich einer Ruine. Wenn ich nicht gleich aufgeben wollte, mußte ich als erstes Baumaßnahmen in Angriff nehmen. Handwerker mußten beschafft, Material gekauft werden. Einige Handwerker wurden uns als "Spende" von einem privaten Bauunternehmer zur Verfügung gestellt. Sie verputzten, mauerten und fliesten die Wände. Andere Arbeiten wurden von den Handwerkern des Vereins ausgeführt. Bis es allerdings soweit war, daß ein Anfang gemacht werden konnte, hatte ich anderthalb Monate gewartet, gefragt, gemahnt, darauf hingewiesen, daß ich das gesamte Geld wieder zurückgeben muß, wenn das Projekt nicht zustandekommt. Es passierte gar nichts

Erst, als ich einen konkreten Termin für die Eröffnung nannte und eine Zielprämie aussetzte, begannen die Arbeiten. Sie begannen, aber von kontinuierlichem Fortschritt konnte keine Rede sein. Hindernisse traten auf, die sich nicht einmal ein DDR-Mensch hätte vorstellen können. Ich will nur einige davon aufzählen: Das Ausmessen der Räume scheiterte an einem fehlenden Zollstock, für die Fliesen reichte der Kleber nicht, für die Erdleitung der elektrischen Geräte mußte ein altes Kabel von der Isolierung befreit werden, es ist tagelang kein Auto aufzutreiben, das Spanplatten holt, es ist nicht bekannt, wo es Deckenplatten zu kaufen gibt, oder - das Hauptübel in Rußland - wegen Trunkenheit erscheint niemand zur Arbeit

Am 20. Juli war es trotzdem geschafft. Die Bauarbeiten waren zum großen Teil abgeschlossen, die eigentliche Küche eingerichtet. Der Eß- und der Aufenthaltsraum prangten in neuem Glanz. Es gab das erste Mittagessen für die zukünftigen Besucher, und am Nachmittag fand die feierliche Eröffnung statt. 25 alte oder behinderte Menschen können dort ein warmes Frühstück bekommen, sich mit Fernsehen, Spielen oder Gesprächen die Zeit bis zum Mittag in dem schönen Aufenthaltsraum vertreiben und nach einem Mittagessen nach Hause gehen. Wie ungewohnt und doch wie notwendig eine solche Einrichtung ist, zeigt folgendes. Am zweiten oder dritten Tag beschwerte sich eine alte Frau, das Essen wäre nicht in Ordnung. Es sei ihr nicht bekommen. Alle waren bestürzt, aber dann kam jemand auf die Idee zu fragen, was sie sonst gegessen hätte. "Nun ja", meinte sie, zum Frühstück habe ich Tee getrunken und manchmal ein Stück Brot dazu gegessen. Zu Mittag auch Tee, aber ohne Zucker. Und zum Abendbrot Tee und dazu eine Mohrrübe oder eine Kartoffel, wenn mein Enkel mir etwas gebracht hat."

Anders als in den bei uns vorhandenen Suppenküchen wird jeweils eine Gruppe von Personen, die durch den Vereinsvorstand nach bestimmten Kriterien ausgewählt wird, einen Monat lang die Einrichtung besuchen. Kriterien sind neben der Höhe der Rente auch der Grad der physischen bzw. geistigen Behinderung. Dazu kommen noch Personen, die vom Vorsteher der orthodoxen Gemeinde benannt werden. Damit wird sich eines unserer Hauptanliegen erfüllen, die Verbindung von sozialem Engagement mit dem Bemühen der orthodoxen Kirche, dem geistigen Verfall dieser Gesellschaft entgegenzuwirken."

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 40 des 48. Jahrgangs (im Jahr 1998).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 04.10.1998

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