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Aus der Region

Hier zeigt sich die Kraft des Kapitals

Kardinal Sterzinsky im Interview

Kardinal_Sterzinsky

Auf der größten innerstädtischen Baustelle Europas, dem Potsdamer Platz in Berlin, wurde jetzt das Daimler-Benz-Areal eingeweiht. In einem Interview der Katholischen Nachrichten Agentur (KNA) aus diesem Anlaß äußerte sich der Berliner Erzbischof Kardinal Georg Sterzinsky in Berlin kritisch zum neuentstehenden Stadtzentrum und den Wirkungsmöglichkeiten der Kirche.

Herr Kardinal, Sie haben vor zwei Jahren deutliche Kritik an der Bauplanung am Potsdamer Platz geäußert. Nun nimmt die Neugestaltung des Areals Konturen an. Was halten Sie vom Ergebnis?
Architekten und Städteplaner, Unternehmer und Bauarbeiter haben innerhalb einer kurzen Frist gewaltige Leistungen vollbracht und sind damit noch nicht am Ende. Aus einer Brachlandschaft hat sich nach wenigen Jahren ein städtebauliches Ensemble erhoben, das man nicht einfach ignorieren kann. Das muß gewürdigt und darf nicht geringgeschätzt werden, egal ob einem das Ergebnis gefällt oder nicht. Wer den Ort besucht, sollte sich beim Gang durch diese Straßen die eigenen Empfindungen bewußt machen. Meine Zweifel, ob inmitten der kühnen und großformatigen Architektur Menschen leben und sich wohlfühlen können, sind nicht ausgeräumt. Hier zeigen sich die Kraft des Kapitals und die Postmoderne. Von hier geht die Botschaft aus: Schaut auf die wirtschaftliche Macht dieser Konzerne! Amüsiert euch und genießt!
Beabsichtigt man ernsthaft, dieses Areal als Symbol für die Einheit und Zukunft Berlins zu bezeichnen? Dann frage ich: Welchen Platz haben hier Familien? Wo bleiben die, die kein oder zuwenig Geld haben, um es hier auszugeben? Offenbar muß immer wieder darauf aufmerksam gemacht werden, daß es auch in unserer Stadt Armut, Obdachlosigkeit und andere Formen von sozialer Not und Hilflosigkeit gibt. Wenn angesichts solcher Personenkreise lediglich von "unliebsamen Zeitgenossen" gesprochen wird, denen gegenüber man konsequent vom Hausrecht Gebrauch zu machen beabsichtigt, ist das ein trauriges Armutszeugnis. In den Kreisen, die hier das Sagen haben, scheint mangelndes soziales Bewußtsein kein negatives Kennzeichen zu sein
Am Potsdamer Platz entsteht nach Ansicht des Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen "ein Stück Großstadt als Experiment". Was bedeutet es Ihrer Ansicht nach, daß die Kirche in diesem Experiment - zumindest bisher - keinen Platz hat?
Signifikant ist, daß in den Planungen für dieses "Experiment" die Kirchen nicht vorgesehen waren. "Stadt ohne Gott" lautete deshalb mancher Kommentar. Es nützt jetzt nichts, darüber zu räsonieren. Wir haben versucht, "dazwischen zu kommen". Initiativen und singuläre Veranstaltungen, Einzelpersönlichkeiten, auch das Erzbischöfliche Ordinariat Berlin haben sich mit der Thematik Präsenz der Kirche am Potsdamer Platz befaßt, und sie tun das weiter. Nunmehr müssen wir abwarten, bis sich die Eigentümer und Anbieter in den Büro-, Verkaufs- und Kulturzentren etabliert haben. Wir nehmen alles aufmerksam zur Kenntnis, beurteilen kritisch und werden versuchen, als Kirche dort präsent zu sein. Allerdings suchen wir auch noch nach dem Konzept, wie Kirche an diesem Schnittpunkt städtischen Lebens präsent werden muß.
Wird sich also die Kirche auf dem Platz in irgendeiner Form engagieren?
Der so gestaltete Platz muß auch als Herausforderung und Chance für die Kirche betrachtet werden. Die Botschaft Jesu Christi gilt allen. Sie soll jeden Bereich der Kultur erreichen und helfen, daß er menschlichere Züge bekommt. Das wünsche ich auch für diesen Platz. Vielleicht können wir über die Präsenz der Kirche an diesem Ort im Prozeß des diözesanen Pastoralforums ins Gespräch kommen. Inzwischen gibt es in einigen deutschen Großstädten beachtliche Ansätze zur Citypastoral. Die dort gemachten Erfahrungen werden wahrscheinlich nicht ohne weiteres auf Berlin übertragbar sein, aber dennoch Anregungen geben können. Auch in Berlin selbst gibt es Ansatzpunkte. Ich denke an manche Überlegungen und Ini-tiativen aus der Katholischen Akademie oder der Gemeinde Sankt Ludwig und anderes. Auch der Raum der Stille im Brandenburger Tor ist ein Signal. Immer wieder wurde der Wunsch vorgetragen, inmitten des neuen Zentrums ein Anbetungs- beziehungsweise Meditationszentrum einzurichten. Ein ökumenisch getragenes, spirituelles Zentrum, wo man vielleicht auch mit Menschen der Kirche ins Gespräch kommen kann, würde sicher einem Bedürfnis mancher Passanten entgegenkommen
Sie sind zur Eröffnung des Daimler-Benz-Areals eingeladen - werden Sie trotz Ihrer Kritik daran teilnehmen?
Der Einladung will ich folgen. Immerhin markiert die Eröffnung des Daimler-Benz-Areals eine wichtige Etappe beim Wiederaufbau und bei der Neugestaltung in diesem Teil der Stadt. Das hat Bedeutung für die ganze Stadt Berlin. Kirche darf sich nicht aus dem öffentlichen Leben zurückziehen.

Interview: Wolfgang Wagner

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 41 des 48. Jahrgangs (im Jahr 1998).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 11.10.1998

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