Ministerin Lieberknecht beim Ökumenischen Gesprächsforum in Volkenroda
Dokumentation
Die Thüringer Ministerin für Bundesangelegenheiten in der Staatskanzlei, Christine Lieberknecht (CDU), hat beim Ersten Ökumenischen Gesprächsforum im thüringischen Kloster Volkenroda am 27. September (siehe dazu Seite 19) einen Vortrag zum Thema "Herausforderungen an der Schwelle zum 3. Jahrtausend" gehalten. Der Tag des Herrn dokumentiert Auszüge aus ihrem Referat:
... Die Grundfragen für unser Thema sind meines Erachtens: Wie wird die Gesellschaft sich in nächster Zeit voraussichtlich entwickeln? Welche Institutionen geben Halt? Mit welchen Leitbildern wollen und können wir überhaupt in diese Entwicklung eingreifen? Was müssen wir den Menschen mitgeben und was können wir Christen und die Kirchen dazu beitragen? ..
Da ist die immer größere Kluft zwischen dem, was wir können, und dem, was wir auch verantworten können. Wir brauchen nur an den medizinischen Bereich zu denken, mit den am Lebensanfang und Lebensende verschwimmenden Grenzen, an unsere Not, auch nur den Todeszeitpunkt zu bestimmen
Da sind die ökologischen Herausforderungen. Die Bevölkerung wächst weiter, sie beansprucht die Ressourcen dieser Erde in einem Maß, dessen Folgen wir nicht einmal abschätzen können. Damit ist eine Verantwortung verbunden, aus der sich niemand herausstehlen kann
Ich denke dabei auch an die mit dem ökologischen Stichwort "Globalisierung" nur unzulänglich beschreibbaren Entwicklungen. Die ökonomische Entgrenzung und die Informationstechnologie führen zu einer verschärften weltweiten Konkurrenz von Menschen und Standorten
Damit wird sich auch unser Gemeinwesen deutlich verändern. Das Band der Generationen, die Solidarität zwischen den starken und schwachen Gliedern unserer Gesellschaft muß neu geknüpft werden. Davon werden sicher geglaubte Besitzstände und Erwartungen berührt. Zugleich haben die Staaten immer weniger Möglichkeiten, auf diese Herausforderungen zu reagieren. Die ökonomisch dominierte Weltgesellschaft, die sich da abzeichnet, relativiert auch ihre Handlungsmöglichkeiten in ganz erheblichem Maß
Die Erwartungen gehen immer noch in eine andere Richtung: Der Staat mit seinen diversen Ablegern soll alles können und die Risiken des Lebens weitgehend absichern. Für eine solche Politik ist kaum noch eine Basis vorhanden. Und sie wird mit atemberaubender Geschwindigkeit dünner. Zwischen der nationalstaatlich organisierten Sozialordnung und der internationalen Wettbewerbsordnung klafft eine Lücke, von der noch nicht klar ist, ob und wie sie gegebenenfalls geschlossen werden kann. Das ist für die Menschen eine besonders beunruhigende Erfahrung, weil damit der Bezugsrahmen flüchtig wird
Es ist kein Wunder, wenn unter diesen Bedingungen gerade in den neuen Ländern - wo die Menschen 40 Jahre lang bevormundet worden sind - häufiger die Systemfrage gestellt wird: Die Demokratien stehen nach dem Ende des Kommunismus vor der Aufgabe, "ihre Substanz und ihre Entscheidungen jetzt ausschließlich aus sich selbst heraus positiv und ohne Umwege zu begründen", so Werner Weidenfeld. Die abschreckende sozialistische Alternative stehe als Kitt für die pluralen Demokratien nicht mehr zur Verfügung, derweil die Probleme komplexer, die Handlungsspielräume enger und die Abhängigkeiten größer geworden seien. Kein Rückenwind eines wachsenden Wohlstandes für alle (Ludwig Erhard) hilft über die Phase eine fälligen Neuorientierung hinweg
Der Aufbau einer stabilen Demokratie ist in Westdeutschland durch eine atemberaubende wirtschaftliche Entwicklung und den Ausbau des Wohlfahrtsstaates gestützt worden. Man lebte aus den Überschüssen mit dem Ziel möglichst umfassender Selbstverwirklichung und war lange Zeit der Meinung, das werde ewig so weitergehen. Politiker aller Parteien haben aus verständliche Gründen versucht, Wähler mit sozialen Wohltaten zu gewinnen und dabei des Guten zuviel getan. Das hat sich gründlich geändert. Es hat nicht weniger als ein Perspektivenwechsel stattgefunden: Galten der immer weitere Ausbau der sozialen Sicherungen und wirtschaftlichen Prosperität lange Zeit als zwei Seiten der gleichen Medaille, so erscheint der breit angelegte Wohlfahrtsstaat nicht wenigen Entscheidungsträgern seit einigen Jahren als Wettbewerbshindernis
Als weiteres Merkmal unserer Zeit kommt für mich hinzu, daß bei einer Neuorientierung herkömmliche politische und ideologische Deutungsmuster nicht mehr greifen. Die Neuzeit, vorallem die mehr als 200 Jahre seit der Aufklärung, waren durch den Optimismus geprägt, alles erklären und machen zu können. Ludger Kühnhardt hat in diesem Zusammenhang von einer "Selbsterlösungshoffnung" gesprochen. Die totalitären Großideologien unseres Jahrhunderts waren eine spezielle Ausformung dieser hybriden Selbsterlösungshoffnung. "Die Lehre von Karl Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist." Vor nicht allzulanger Zeit ist das von vielen Menschen noch sehr ernst genommen worden, und das keinesfalls nur in den neuen Bundesländern. Der Glaube an Gott wurde durch die Vergottung in-nerweltlicher Zustände ersetzt. Wenigstens dieser realsozialistische Spuk ist vorbei, wenngleich noch längst nicht aus allen Köpfen vertrieben
Der auf Konsum und Selbstverwirklichung ausgerichtete Lebensstil ist als Alternative kaum geeignet. In der modernen Welt haben sich die Menschen so lange und so gründlich aus Bindungen aller Art befreit, daß sie ihr Leben vielfach nicht mehr bewältigen können und die Frage nach dem Sinn keine Antwort mehr findet. Beliebigkeit und Maßlosigkeit, Entgrenzung und Genußmaximierung sind zu wesentlichen Inhalten eines veräußerlichten Freiheitsverständnisses geworden. Dadurch nimmt auf Dauer nicht nur das Gemeinwesen, sondern auch der Mensch Schaden. Maß und Mitte, eine echte Polarität zwischen Freiheit und Bindung gehen verloren
Es ist also ziemlich viel, was da zusammenkommt, aber es besteht trotzdem kein Grund zur Resignation. Wer mehr als nur seine Lebensspanne in den Blick zu nehmen vermag, der weiß auch, daß Menschen immer wieder Antworten auf die Herausforderungen des Daseins gefunden haben. Ich möchte nur einige Ansatzpunkte zur Debatte stellen, zu denen Christen etwas zu sagen haben
Der erste Punkt betrifft Erziehung und Bildung - weil ich es fundamental für falsch halte, den Menschen nur als Produkt der wirtschaftlichen oder anderer Verhältnisse zu betrachten. Das ist mit der "Freiheit eines Christenmenschen" (Luther) nicht in Übereinstimmung zu bringen. ..
Es sei mir gestattet, Luther zu zitieren, um den Rang der Aufgabe herauszustellen. Im Sermon vom ehelichen Stande hat er 1519 geschrieben: "Das sollen Eltern wissen, daß sie Gott, der Christenheit, aller Welt, sich selbst und ihren Kindern kein besseres Werk und Nutzen schaffen können, als wenn sie ihre Kinder gut erziehen." Hier dürfen sich auch jene angesprochen fühlen, die professionell mit Erziehung zu tun haben
Gebraucht wird eine Erziehung zur Lebenstüchtigkeit, die Wissen und Können genau so umfaßt wie für die Wechselfälle des Lebens erforderliche seelische Stabilität. Gebraucht wird aber eine Erziehung, die den Nächsten und das Gemeinwohl mit einschließt
Es ist wahrlich schwer genug, eine Generation heranzuziehen, die die wirtschaftlichen Überlebenstechniken der globalen Wirtschaftsgesellschaft beherrscht. Ein weit größeres Problem wird sein, Eliten herauszubilden die weiterdenken, die zusätzlich die Balance zwischen Freiheit und Bindung, Rechten und Pflichten, Eigeninteresse und Gemeinwohl verinnerlichen
Zuweilen beschleicht mich die Sorge, daß der zweite Aspekt nicht hinreichend gewürdigt wird. Dabei besteht ein evidenter Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und den kulturellen Vorleistungen. Wer die menschlichen Ressourcen zugunsten kurzfristiger wirtschaftlicher Ziele verschleißt, der wird im zweiten Gang das Nachsehen haben
Dokumentation wird fortgesetzt
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 11.10.1998