Nur ein Mentalitätswechsel hilft
Dokumentation (Teil 2)
"Herausforderungen an der Schwelle zum 3. Jahrtausend" - so lautete das Thema eines Vortrages, den die Thüringer Ministerin für Bundesangelegenheiten in der Staatskanzlei, Christine Lieberknecht (CDU) kürzlich bei einer Veranstaltung im Kloster Volkenroda hielt. Der Tag des Herrn dokumentiert Auszüge des Referates:
Wir werden auf allen Ebenen viele charakterstarke Menschen brauchen, die über den Tellerrand des Eigeninteresses hinausblicken. Je weniger das gesellschaftliche Leben durch äußere Ordnungen vorgegeben ist, desto mehr hängt von jedem einzelnen ab. Karl Jaspers hat Bildung einmal als "zu Wirklichem Dasein gewordenes Bewußtsein" bezeichnet, als die Fähigkeit, "Welt und Dinge nicht chaotisch und isoliert, sondern in bestimmt gegliederten Perspektiven" zu sehen. Darauf wird es mehr denn je ankommen. Ohne Zweifel können Christen und Kirchen dazu einen wesentlichen Beitrag leisten, nicht nur, aber doch auch, weil sie der Erde den Himmel hinzufügen und den Menschen in einen größeren Zusammenhang einordnen
Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen "ideellem Altruismus" und starker Kirchenbindung auf der einen Seite sowie zwischen Selbstbezogenheit und schwacher oder fehlender Kirchenbindung auf der anderen Seite. Das hat der Sozialpsychologe Gerhard Schmittchen in einer bemerkenswerten Jugendstudie überzeugend herausgearbeitet. Die Frage ist nur, wie die Kirchen ihre Botschaft, ihren Erfahrungsschatz und ihre Gaben in den Erziehungs- und Bildungsprozeß einbringen können. Sie dürfen sich nach meiner festen Überzeugung nicht zurückziehen, sondern müssen ihren Beitrag in den Schulen, an den Universitäten offensiv vertreten. Der Religionsunterricht ist in diesem Zusammenhang besonders wichtig
Das zweite große Thema unserer Zeit ist die Suche nach einer gerechten Ordnung unter den gewandelten Bedingungen. Einfache Antworten darauf gibt es verständlicherweise nicht. Aber Christen haben dazu im Licht ihres Glaubens Wesentliches beizusteuern. In den Kirchen wird über dieses Thema seit nahezu zwei Jahrtausenden nachgedacht
Ein Beispiel für die Lebendigkeit dieser Tradition ist der im vergangenen Jahr zu Ende gegangene Konsultationsprozeß. Der Text beschreibt die Herausforderungen für das Wirtschafts- und Sozialsystem an der Schwelle zum nächsten Jahrhundert in abgewogener Weise. Es wird nichts verschleiert, aber auch nichts dramatisiert
Ich denke, die Menschen sind mit den Kirchen einig: Der Blick auf die Welt ausschließlich durch die betriebswirtschaftliche Brille ist zu schmal. In den neuen Ländern stehen wir zusätzlich vor der Aufgabe, den Strukturwandel viel stärker inhaltlich zu begleiten. Erfolge werden sich dabei nur langfristig einstellen, weil es letztlich auf einen Mentalitätswechsel ankommt
Die Einsicht, das Gerechtigkeit nicht mit sozialer Gleichheit zusammenfällt und ein Mehr an Gleichheit immer zu Lasten der Freiheit geht, muß erst noch wachsen. Aber auch das ist nur möglich, wenn die Menschen das Gefühl haben, diese Freiheit in eigener Verantwortung nutzen zu können. Besinnung auf die Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft ist dabei geboten. Sie ist kein starres Regelsystem. Eine tragfähige Balance zwischen wirtschaftlicher Freiheit und sozialer Gerechtigkeit muß den Bedürfnissen der Zeit entsprechend immer wieder neu gefunden werden. Es geht nicht um ein Dogma, sondern um die Betrachtungsweise
Der rote Faden war stets die Suche nach einem dritten Weg zwischen kollektivistischem Sozialismus und individualistischem Kapitalismus. Am Anfang stand der Wille, den reinen Wirtschaftsliberalismus zu überwinden. Daran sollten wir auch heute keine Abstriche zulassen. Ein menschliches Dasein bestimmt sich nicht nach ökonomischen Kategorien
Heiner Geißler hat es auf den Punkt gebracht: "Das Soziale ist kein Lazarettwagen der Wettbewerbswirtschaft. Die soziale Marktwirtschaft hat ihr geistiges Fundament in der zum christlichen Menschenbild gehörenden Idee der verantworteten Freiheit, der Personalität und sozialen Verantwortung. Die soziale Marktwirtschaft steht im Gegensatz zur sozialistischen Ein-engung freiheitlicher Rechte und zu unkontrollierten Wirtschaftsformen liberalistischer Prägung." (Geißler 1996) Wir sollten uns allerdings hüten, den Ruf nach sozialer Gerechtigkeit nur an den Staat zu adressieren: Solidarität ist auch zwischen den Arbeitsplatzbesitzern und den Arbeitslosen erforderlich, damit die bisher nur viel beschworene "Zweidrittelgesellschaft" nicht eines Tages doch Wirklichkeit wird. Staat, Arbeitgeber und Gewerkschaften stehen in gemeinsamer Verantwortung, finanzierbare Arbeitsplätze zu ermöglichen
Zu diesen Aspekten enthält die Kirchendenkschrift wichtige Hinweise. Auch die Kirchen betonen klar, daß der Staat angesichts derartiger Herausforderungen wie der Massenarbeitslosigkeit nicht alleine in der Pflicht steht. Dabei geht es nicht nur um die Arbeitswelt. Es geht um die Leitbilder für die gesamte Gesellschaft: Herausgestellt werden zu Recht Begriffe wie "Eigenverantwortung, Subsidiarität und ergänzende Sozialkultur". Wir müssen uns wieder auf die kleinen sozialen Netze besinnen. Soziale Risiken lassen sich nicht komplett durch den Staat und Sozialversicherungen auffangen. Das ist in anderen Gesellschaften noch gegenwärtiger
Der Staat wird damit nicht überflüssig. Er hat immer noch und auf unabsehbare Zeit die Aufgabe, Ordnung und Sicherheit, Rechte und Rechtstaatlichkeit und eine soziale Grundsicherung zu garantieren sowie die Interessen seiner Bürger nach außen zu vertreten. Dies alles sind Elemente einer gerechten Ordnung. Daneben muß er Freiraum und Anreize für die gesellschaftliche Selbstorganisation schaffen, für Familien, Nachbarschaften, ehrenamtliches Engagement, Freiwilligenbewegungen oder das Stiftungswesen, das in Deutschland einmal viel weiter entwickelt war als heute. Vom Staat und den Parteien verlangt das zugleich den Verzicht auf illusionäre Fassade, alles oder fast alles regeln zu können
Ein dritter Aspekt schließt unmittelbar daran an: Was hält das Gemeinwesen im inneren zusammen, wenn sie deutlicher als bisher auf das selbstverantwortliche Individuum setzt? Nach einem fast bis zum Überdruß zitierten, aber gleichwohl richtigen Diktum von Böckenförde lebt die Gesellschaft von Voraussetzungen, die sie nicht selbst schaffen kann
Dokumentation wird fortgesetzt
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 18.10.1998