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Bistum Dresden-Meißen

Bischof Otto Spülbeck und der Ungarnaufstand 1956

Bistumsgeschichte

"Horthy-Faschisten geschlagen", jubelte vor 42 Jahren die SED-Presse nachdem Sowjettruppen am 4. November 1956 begonnen hatten, den antistalinistischen Aufstand in Ungarn im Blut zu ersticken. Auf Weisung der DDR-Staatspartei mußten die "Werktätigen" der sozialistischen Betriebe Solidaritätserklärungen verfassen und Sympathiekundgebungen für das Regime des János Kádár (1912-1989) abhalten. Womit die Partei nicht rechnete: Ein Mann der Kirche wagte den Widerspruch. In einem Hirtenbrief, der am 18. November 1956 verlesen wurde, solidarisierte sich der katholische Bischof Otto Spülbeck (1904-1970) mit den unterdrückten Ungarn

Für die SED stand von Anfang an fest, daß es sich bei dem am 23. Oktober 1956 ausgebrochenen Volksaufstand um einen "konterrevolutionären Putsch" und eine "faschistische Provokation" handelte - so das Dresdner Parteiorgan "Sächsische Zeitung" am 26. Oktober. Kardinal József Mindszenty (1892-1975), der Primas der ungarischen katholischen Kirche, der die Aufständischen unterstützt hatte, wurde als "Agent der internationalen Reaktion" verunglimpft; man unterstellte ihm, er hätte "vertierte Faschisten" zu "seinen Werkzeugen" gemacht ("Sächsische Zeitung" vom 12. November 1956)

An dem "Treiben der Mordbanden" waren nach Auffassung der SED "Horthy-Offiziere und faschistische Pfeilkreuzler" beteiligt, aber auch "nazistische ,Volksbunddeutsche' und magyarische Großgrundbesitzer" sowie "antisemitische Menschenfresser" ("Sächsische Zeitung" vom 28. November 1956). Tatsächlich hatte der Ungarnaufstand nicht nur die Züge eines heroischen Freiheitskampfes getragen. Auf Budapests Straßen und Plätzen hatte auch ein brutaler, enthemmter Mob getobt. Kommunistische Funktionäre - unter ihnen viele Juden - wurden an Straßenbäumen aufgehängt, erschlagen, erschossen und ertränkt

Mit ihrer undifferenzierten und haßerfüllten Propaganda wollte die SED von den wahren Ursachen und Zielen des Aufstandes ablenken. Alle Andersdenkenden sollten eingeschüchtert werden. Wer dennoch gegen die sowjetische Intervention zu protestieren wagte, mußte mit Verhaftung und Aburteilung rechnen. So wurden beispielsweise sieben Dresdner Oberschüler zu insgesamt zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt

In dieser schwierigen Situation verfaßte Bischof Spülbeck, der seit Dezember 1955 als Apostolischer Administrator des Bistums Meißen amtierte, unter dem Datum des 14. November 1956 einen Hirtenbrief, in dem er zu aktuellen Ereignissen Stellung nahm: zum Ungarnaufstand, aber auch zur gleichzeitig ausgebrochenen Sueszkrise. Das bischöfliche Schreiben wurde als kircheninterner Runderlaß Nr. 84/1956 des Bistums Meißen dem Domkapitel St. Petri in Bautzen, der bischöflichen Verwaltungsstelle und der Diözesancaritas in Dresden sowie den Pfarrsteuerverbänden zugestellt; außerdem ging es an alle Pfarreien, Pfarrvikarien und Lokalkaplaneien der Diözese

Sein Hirtenwort leitete Spülbeck mit der Feststellung ein, "Willkür und Gewalttat" seien die Ursache für "die jüngsten Ereignisse". "Bewaffnete Auseinandersetzungen, um nicht zu sagen kriegerische Eingriffe" seien "unter Mißachtung feierlicher Eide und Versprechen geschehen"

Bei der Bewertung dieser Vorgänge orientierte sich der Bischof an den Auffassungen von Papst Pius XII. (1876-1958); er zitierte deshalb ausführlich den Pontifex maximus:

"Der Heilige Vater sagt in seiner Enzyklika ,Datis nuperrime' vom 6.11.1056: ,So befiehlt Uns Unser Pflichtgefühl, gegen diese schmerzlichen Tatsachen zu protestieren, die nicht nur die erbitterte Trauer und Empörung der katholischen Welt, sondern auch aller freier Völker hervorgerufen haben

Jene, auf die die Verantwortung für diese traurigen Ereignisse fällt, müßten sich endlich klar werden, daß die gerechte Freiheit der Völker nicht durch Blut unterdrückt werden kann ... Es ist heute das Blut des ungarischen Volkes - und wir müssen nach den letzten Ereignissen hinzufügen, von Völkern im Nahen Osten - ,das zum Herrn schreit, der als gerechter Richter die Sünden der einzelnen erst nach dem Tode bestraft, der aber auch manchmal in diesem Leben Regierende und Nationen, wie die Geschichte es lehrt, wegen der begangenen Ungerechtigkeit schlägt."

Spülbeck rief die Gläubigen seiner Diözese dazu auf, "gegen die Stimmungen der Verzweiflung und der Mutlosigkeit" anzukämpfen. Mit den Waffen des öffentlichen Gebetes und der Buße sollten sie "die Macht des Bösen" brechen

Am 18. November 1956 wurde der Hirtenbrief in allen Kirchen und Gottesdienststationen des Bistums Meißen verlesen. Die Diözese zählte damals rund 480 000 Gläubige, von denen ein Drittel aktiv am religiösen Leben teilnahm. Spülbecks zeitkritischen Worte dürften somit etwa 160 000 Kirchgänger erreicht haben

Auf Weisung des Bischofs wurden am letzten Sonntag des Kirchenjahres, dem 25. November 1956, in allen Gemeinden Gebetsstunden "im Sinne des Hirtenschreibens" durchgeführt. Drei Wochen später wandte sich der Oberhirte dann nochmals an seine Diözesanen. In einem am 16. Dezember 1956 verlesenen, relativ kurzen Schreiben wurden die Gläubigen aufgefordert, besonders in der Weihnachtszeit für die Erhaltung des Weltfriedens und die Opfer der ungerechten Gewalt zu beten

Eine Veröffentlichung der bischöflichen Äußerungen zum Zeitgeschehen war unter den politischen Bedingungen der DDR natürlich völlig undenkbar. Dennoch gelang es der Kirche, ihre Haltung zur ungarischen Tragödie auch schwarz auf weiß darzulegen. In seiner Ausgabe vom 29. Dezember 1956 brachte der Tag des Herrn Zitate aus Erklärungen von Papst Pius XII., die zum Teil schon von Bischof Spülbeck angeführt worden waren. So konnte man lesen, daß der Heilige Vater am 5. November den Bischöfen der ganzen Welt geschrieben hatte: "Wir, die Wir mit väterlicher Gesinnung auf alle Völker schauen, müssen feierlich erklären, daß jede Gewaltanwendung, jedes ungerechtfertigte Blutvergießen - begehe es, wer es wolle - immer eine Sünde ist. Und Wir müssen noch einmal alle Völker und alle Gesellschaftsklassen hinweisen auf den Frieden, der seine Wurzeln in Gerechtigkeit und Freiheit haben muß und in der Liebe seine lebensspendende Nahrung findet." Zitiert wurde außerdem aus päpstlichen Botschaften vom 2. und 10. November 1956

Bis zu erstmaligen Veröffentlichung von Bischof Spülbecks Hirtenwort zum Ungarnaufstand sollten fast vier Jahrzehnte vergehen. Im Jahr 1992 übergab der Verfasser dieses Beitrages dem damaligen ungarischen Generalkonsul für Sachsen und Thüringen, Attila Király, eine Kopie des Runderlasses Nr. 84/1956 aus dem Ordinariatsarchiv in Bautzen. Der Diplomat leitete das Dokument an das 1991 gegründete "Institut für die Geschichte der Revolution von 1956" in Budapest weiter. Bei dessen Direktor, dem Historiker György Litván, und seinen Mitarbeitern sorgte das Bischofswort für einiges Erstaunen, war es doch in Ungarn bislang völlig unbekannt. Das Schreiben wurde ins Ungarische übersetzt und 1993 in der Oktoberausgabe der Zeitschrift "Világosság" (Licht) publiziert

Ein Jahr später wurde dann erstmals der deutsche Originaltext veröffentlicht. Er ist enthalten in dem von Josef Pilvousek herausgegebenen Dokumentenband "Kirchliches Leben im totalitären Staat - Seelsorge in der SBZ/DDR 1945-1976" (Verlagsgesellschaft Benno-Bernward-Morus mbH, Hildesheim 1994)

Peter Bien

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 44 des 48. Jahrgangs (im Jahr 1998).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 01.11.1998

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