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Bistum Görlitz

Der Engel von Karachi besuchte Wittichenau

Ruth Pfau

Wittichenau - Bereits seit 38 Jahren wirkt die engagierte deutsche Ordensfrau und Ärztin, Dr. Ruth Pfau, in der pakistanischen Millionenmetropole Karachi in unermüdlichem Einsatz für an Lepra erkrankte Menschen. Kürzlich besuchte sie im Rahmen ihrer Deutschlandreise auch Wittichenau. Bei ihrem Diavortrag in der Kreuzkirche gelang es Ruth Pfau recht schnell, eine Dimension ihres gelebten Christentums in die Gemeinde einzubringen

Auf Initiative von Siegfried Hennig, der im Dienst des Deutschen Aussätzigen-Hilfswerks (DAHW) schon mehrere Aktionen in Wittichenau startete, war die 68jährige nach Wittichenau gekommen, um vom pakistanischen Alltag, den dort bestehenden Zuständen sowie den Ergebnissen ihrer Arbeit zu berichten. Ärmlich bekleidete Kinder, von Smog verseuchte, trübe Straßenbilder, weite Landschaften und Slums - das waren die ersten Dia-Eindrücke von Pakistan, ehe die zum Orden "Töchter vom Herzen Mariä" gehörende Ärztin zu ihrem eigentlichen Thema "Lepra und ihre Bekämpfung" überleitete

In den 50er Jahren, kurz nach Beendigung ihres Medizinstudiums, hatte Ruth Pfau das Bedürfnis verspürt, dem beginnenden Wirtschaftswunder und dem damit verbundenen Konsumrausch in Deutschland zu entfliehen, um sich abseits der Wohlstandsgesellschaft für Ärmere und Schwächere einzusetzen. Als ihre Gemeinschaft sie 1960 nach Pakistan schickte, wollte sie gleich beim ersten Besuch der Leprakolonie von Karachi hier schnellstmöglich etwas tun. Lepra galt zu diesem Zeitpunkt in Pakistan als die gerechte Strafe für begangene Sünden. Kein Wunder, daß sich kaum einer um die "Aussätzigen" kümmerte und man sie jahrelang in ihren Hütten in Dreck, Unrat und Schmutz vor sich dahinvegetieren ließ. Als Ruth Pfau selbst mit ansehen mußte, wie nachts Ratten tiefe Wunden in die nicht mehr empfindungsfähigen Beine der Patienten rissen und ihnen einfach die Kraft fehlte, sich gegen dieses Elend aufzulehnen, beschloß sie, hier unbedingt etwas zu tun. Einer der ersten Schritte war ein heftiges Streitgespräch mit der Stadtverwaltung, um das schon seit Jahren in die Kolonie hineinfließende Kloakenwasser herausgepumpt zu bekommen

Schritt für Schritt gelang es der Deutschen, die einst so gefürchtete Krankheit fast flächendeckend so zu bekämpfen, daß Lepra im Februar 1997 unter die von der Weltgesundheitsorganisation vorgegebene Gefahrenschwelle gesenkt werden konnte. Mehr als 47 000 Patienten wurden diagnostiziert und behandelt, 2500 von ihnen befinden sich heute noch in ärztlicher Obhut. Unterstützt wurde die sich selbst als "Feuerwehr" bezeichnende Ärztin dabei von 480 ausgebildeten Assistenten, die aufs Land fahren, um die in abgelegenen Dörfern lebenden Menschen mit den wichtigen Medikamenten zu versorgen. Von Spendengeldern konnte auch eine moderne Spezialklinik in Karachi aufgebaut werden

Besondere Aufmerksamkeit schenkten die Zuhörer Berichten, die die mit der Lepra verbundene menschliche Tragik zeigen. Ein Beispiel ist das Schicksal des afghanischen Jungen Satyk, der von seinen Eltern in Karachi ausgesetzt wurde und später miterleben mußte, wie seine Schwester wegen ihrer Leprakrankheit vom Vater lebendig begraben wurde. Obwohl Satyk körperlich gesehen inzwischen völlig ausgeheilt war, galt er für seinen Vater nach wie vor als Aussätziger. Die ihm versprochene Braut heiratete seinen Bruder. Grund: Satyk fehlten nach der Behandlung die Augenbrauen, so daß der Vater ihn nicht mehr als vollwertigen Menschen anerkannte

"Gerade dieses erschütternde Beispiel ließ uns nicht mehr los. Was passiert eigentlich, wenn die Bakterien abgetötet sind? Was können wir für den Betroffenen tun, um ihn wieder sozial in die Gesellschaft zu integrieren? All diese Fragen bekräftigten unsere Bemühungen, uns verstärkt auf den Gebieten der Früherkennung, Aufklärung und Rehabilitation zu engagieren", berichtete Ruth Pfau

Diese zweite, im Januar 1998 eingeleitete Periode der Leprabekämpfung mit dem Titel "Operation 2020" soll vor allem dazu beitragen, jeden Patienten so weit zu rehabilitieren, daß er ohne fremde Hilfe allein in der Gesellschaft zurechtkommt und eine Familie gründen kann. Positiver Begleiteffekt: Immer mehr Menschen begeben sich inzwischen selbst in Behandlung, um Frühsymptome einer Lepraerkrankung erkennen zu lassen

Auch in der Ärzteschaft besteht erheblichen Nachholebedarf. Die Medizin kann allerdings schon auf recht beachtliche Fortschritte in der Leprabekämpfung verweisen. So gibt es seit 1984 eine neue Medikamentenbehandlung, bei der man je nach Grad der Krankheit eine Heilung innerhalb von sechs bis acht Wochen erreichen kann. "Um die Lepra jedoch endgültig zu besiegen, müssen wir wohl noch mindestens zwei Generationen lang am Ball bleiben, da die Krankheit selbst eine sehr lange Inkubationszeit besitzt", sagt Ruth Pfau. "Zwar ist die Zahl der Krankheitsfälle von 15 bis 20 Millionen weltweit inzwischen auf eine bis eineinhalb Millionen zurückgegangen, aber die Anzahl der Neuansteckungen ist bislang in etwa konstant geblieben."

Heike Kretschmer

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 44 des 48. Jahrgangs (im Jahr 1998).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 01.11.1998

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