Polen und Görlitz
Der Osten als Chance für die Region Görlitz
Görlitz - "Mir will es einfach nicht in den Kopf, dass Deutsche und Polen nicht miteinander können", sagt Thomas Maruck. Der Buchhändler aus Jauernick engagiert sich seit rund zehn Jahren für ein besseres Verhältnis zwischen den beiden Nachbarvölkern. Er bringt Kunden in Breslau ihre Bücher auch schon mal persönlich vorbei, weil er sich einfach gern in dieser schlesischen Stadt aufhält.
Dabei verbinden sich mit Breslau in der Familie Maruck nicht nur positive Erinnerungen: Marucks Vater floh als 16-Jähriger von dort, nachdem die deutsche Wehrmacht die Dominsel zur so genannten Festung erklärt hatte. Die Großeltern väterlicherseits und auch Verwandte der Mutter wurden nach dem Krieg aus Schlesien vertrieben.
Zwar hätten die Familienmitglieder nicht allzu viel über diese Ereignisse gesprochen, so Maruck, dennoch sei die Vertreibung als "allgemeines Trauma" gegenwärtig gewesen. Seinem inzwischen 90-jährigen Großonkel stünden noch heute die Tränen in den Augen, wenn er an den Bauernhof in Lauban denke, auf dem er aufgewachsen sei.
Nach der Wende lernte Maruck dann einen freien Journalisten aus Berlin kennen, der mit Vertriebenenseelsorgern in Verbindung steht und eng mit dem Apostolischen Visitator Prälat Winfried König in Münster zusammenarbeitet. Von diesem Journalisten bekam Maruck auch Informationen über die Gemeinschaft für deutsch-polnische Verständigung (gdpv). Diese Jugendinitiative im Heimatwerk Schlesischer Katholiken bietet jedes Jahr im Herbst ein so genanntes Schlesien-Forum in Marucks Wohnort Jauernick an. Außerdem veranstaltet sie Fahrten nach Schlesien und gibt ein eigenes Jahrbuch heraus.
Der 41-Jährige ist regelmäßig bei den Veranstaltungen der gdpv dabei - als Teilnehmer, Stadtführer oder Referent. Ihm gefällt die Konzeption dieser Seminare: "Es gibt oft ein Thema, aber zwei Referenten, einen polnischen und einen deutschen. Das ist hochspannend, erst recht, wenn die beiden sich ein bisschen in die Wolle kriegen."
Maruck wünscht sich, dass Deutsche wie Polen bereit sind, sich etwas auch aus der Sicht des anderen erklären zu lassen. Die Wahrheit könne sich immer nur von zwei Seiten her zusammensetzen, glaubt Maruck. Das müssten Deutsche und Polen begreifen. Zum Beispiel sollten die Polen es akzeptieren, wenn ein deutscher Heimatvertriebener traurig sei über sein persönliches Schicksal. Maruck vergleicht deutsche Schlesier mit starkem Heimatbewusstsein gern mit dem polnischen Nationaldichter Adam Mickiewicz, der in dem Epos "Pan Tadeusz" sein einst polnisches Heimatland Litauen besingt.
Ebenso sollten sich Maruck zufolge aber auch die Deutschen bemühen zu verstehen, welche Ängste die Osterweiterung der Europäischen Union bei einem Polen auslösen könne. Wer beispielsweise in einem Haus lebe, das einst ein Deutscher erbaut habe, stelle sich heute die Frage: "Kommt der wieder? Schmeißt der uns raus?"
Die Angebote der gdpv greifen häufig historische Themen auf. Das findet Maruck gut. Der Buchhändler interessiert sich überhaupt sehr für geschichtliche Themen. Begeistert erzählt er etwa vom deutschen Kaiser Otto III., der vor tausend Jahren mit dem polnischen Herzog Boleslaw Chrobry befreundet gewesen sei, spricht davon, dass die Grenze nach Osten im Mittelalter fast jahrhundertelang friedlicher gewesen sei als die nach Westen.
Über ein Jahrtausend bestehe schon diese enge Kontaktzone zwischen Deutschen und Slawen, die sich 1945 geographisch weiter nach Westen verschoben habe. Mit der Zeit seien sich diese Völker deshalb auch ein wenig ähnlicher geworden. Maruck kann deshalb einem in Breslau lebenden Polen zustimmen, der einmal zu ihm sagte, dass ein bisschen slawische Seele in jedem deutschen Schlesier stecke. Aus diesem Geschichtsbewusstsein heraus sei es "logisch", sich für die deutsch-polnische Verständigung einzusetzen, denn "sonst müsste man wieder Kriege führen".
Jugendliche aber, so Marucks Erfahrung, hätten offenbar wenig Bezug zur Geschichte. Zum Beispiel habe er einmal ein Gespräch mitgehört, bei dem junge Menschen aus Deutschland und Polen dafür plädierten, die Vergangenheit und die gegenseitigen Vorwürfe doch endlich zu vergessen und fortan gemeinsam in die Zukunft zu blicken.
Was die Jugend in Deutschland angehe, sei ihr Interesse am östlichen Nachbarn ohnehin nicht gerade groß, erklärt Maruck. Die Jugendlichen orientierten sich im Allgemeinen nach Westen hin. Gerade in Ostdeutschland gebe es in dieser Beziehung Nachholbedarf. Frankreich, Spanien und Italien lägen jungen Deutschen mental oft näher als das Gebiet östlich der Neiße. Die Sprache könne zusätzlich trennend wirken. Englisch etwa sei einfach schneller zu erlernen als das "zischlautbehaftete, grammatikalisch hochkomplizierte Polnisch".
Im Raum Görlitz spürt Maruck eigenen Worten zufolge zwar keine extreme Polenfeindlichkeit, dafür aber ein "totales Desinteresse" - und das hält er für genauso schlimm. Werbung für eine katholische Initiative wie die gdpv zu machen sei in dieser Gegend deshalb doppelt schwierig, zumal die meisten Menschen der Kirche mit ähnlicher Gleichgültigkeit gegenüberstünden wie den Polen.
Außerdem habe sich die Erinnerung gehalten, dass zu DDR-Zeiten, als die Waren in Görlitz ohnehin knapp waren, auch Menschen aus Polen dorthin zum Einkaufen kamen. Nach wie vor hätten die Görlitzer das Gefühl, am "Ende der Welt" zu leben. Dabei bräuchten sie sich nach Ansicht von Maruck bloß nach Osten zu orientieren. "Wir können keine Hilfe von Dresden, Leipzig und Frankfurt am Main erwarten", sagt er, "sondern nur von Hirschberg, Warschau und Krakau." Damit meint er nicht finanzielle Unterstützung, sondern beispielsweise Aufträge für Baufirmen. Maruck ist deshalb dafür, dass Polen möglichst bald der EU beitritt.
Bereits im Mittelalter hätten etwa Görlitzer Tuchhändler Niederlassungen in Breslau besessen. Für Maruck ist das "Alte" deshalb "auch das Neue, das kommen muss". Er hofft, dass sich die Menschen in Görlitz künftig wieder einer niederschlesischen Region zugehörig fühlen werden, die bis nach Breslau reicht. Die großen Supermarktketten hätten ihnen in der Hinsicht etwas voraus: Sie haben die Gebiete östlich von Oder und Neiße längst für sich entdeckt und dort Filialen eröffnet.
Wenn Maruck ein Vorbild für sein grenzüberschreitendes Engagement nennen müsste, würde er den katholischen Priester Franz Scholz wählen. Der deutsche Geistliche hatte schon zu der Zeit, als Breslau noch deutsch war, für die polnische Minderheit dort Gottesdienste in polnischer Sprache gehalten. Er sei ein großer Freund der Polen gewesen, sagt Maruck, obwohl er die Verbrechen in Zusammenhang mit der Vertreibung miterlebt habe.
Verbindend wirke der gemeinsame Glaube auch zwischen den Teilnehmern an Veranstaltungen der gdpv. Darunter finden sich Enkelkinder von Heimatvertriebenen aus Westdeutschland, Angehörige der deutschen Minderheit in Oberschlesien sowie die meist recht zahlreich vertretenen jungen Polen. Allerdings gibt es laut Maruck auch "ein paar Probleme, die wir nicht hätten, wenn wir nicht katholisch wären". Dazu gehört für ihn das intolerante Verhalten gegenüber deutschen Pfarrern und Gläubigen nach dem Zweiten Weltkrieg, aber auch das heutige Bestreben nationalistischer Kirchenkreise in Polen, Kardinal Augustyn Hlond selig zu sprechen. Er sorgte damals dafür, dass in den ehemals deutschen Ostgebieten nur noch polnische Priester im Amt waren.
Trotz allem, so Maruck, gebe ihm der Glaube die Gewissheit, dass irdische Widrigkeiten nicht das Maßgebliche seien. Er ist überzeugt, dass hinter allem "doch noch etwas Größeres" steht.
Das nächste Schlesien-Forum der gdpv findet von 5. bis 8. April in Nysa (Neisse), Polen, statt. Es steht unter dem Thema "Minderheiten in Schlesien". Nähere Informationen erteilt die Gemeinschaft für deutsch-polnische Verständigung (gdpv), Krumme Straße 9, 48143 Münster, Telefon (02 51) 51 11 32, Fax (02 51) 4 20 12.
Karin Hammermaier
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 18.03.2001