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Aus der Region

Aufbau-Hilfe nach der Oderflut vor einem Jahr

Katastrophen

Silvia Scholz öffnet die Tür. Sie hat ihre beiden Gäste bereits erwartet. Der Hund Bobby, der schon vor seinem Frauchen an der Tür war, beschnuppert den Besuch: Nein, keine Neulinge. Diese beiden kennt er schon.

Kurze Zeit später sitzen Frau Scholz und ihre Gäste um einen kleinen runden Tisch und unterhalten sich. Die Gastgeberin erzählt, was die Familie so macht, wie es mit der Arbeit aussieht. Ab und zu ist Lachen zu hören. Später zeigt die "Dame des Hauses" Fotos. Und sie erzählt, wie weit der Bau ist: Weihnachten will die Familie in das neue Eigenheim ziehen. Ihr Mann, der Sohn und der Schwiegersohn arbeiten selbst sehr viel am Haus.

Die Atmosphäre ist freundlich. Es sieht so aus, als säßen dort am Wohnzimmertisch alte Bekannte der Scholzens. Doch dieser Besuch ist kein privater, sondern ein dienstlicher, und der kleine runde Tisch steht auch nicht im Wohnzimmer, denn Familie Scholz wohnt im Moment in keiner richtigen Wohnung. Das Gebäude, in dem sie leben, ist eigentlich die Garage der Familie, denn ihr Wohnhaus wurde in der Folge des Oderhochwassers im Juli 1997 so stark von auslaufenden Heizöl-Tanks verseucht, daß sie es nur noch abreißen konnten. Die Garage ist zwar relativ geräumig, aber es ist doch sehr schwierig, da der Opa nur einen kleinen abgeteilten Raum bewohnen kann, obwohl er wegen seiner Krankheit den ganzen Tag im Haus ist, meint Herr Scholz.

Die beiden Gäste, Sonja Daemen und Jürgen Peckholdt, sind Mitarbeiter des Patenschaftsbüros, das seit August letzten Jahres den vom Hochwasser betroffenen Einwohnern aus Ratzdorf, der Ernst-Thälmann-Siedlung, der Kunitzer Loose, aus Aurith und Wiesenau mit Rat und Tat zur Seite steht. Mit ihrer Kollegin Angelika Schneider sind sie den Opfern der Katastrophe behilflich, die Spenden anzufordern. Verteilt werden die Gelder, die seit nunmehr über einem Jahr für Brandenburgs Hochwasseropfer beim Caritasverband und dem Diakonischen Werk (DW) eingegangen sind. Sie sollen gerecht veteilt werden. Praktisch bekommen alle Betroffenen 90 Prozent des Schadens an ihrem Haus ersetzt. Diese Verteilung von Spendengeldern ist nach Aussagen der Mitarbeiter nicht so einfach. Einige Familien hatten ihr Eigenheim kurz vor dem Hochwasser neu eingerichtet, hatten viel investiert. Andere Gebäude waren über die letzten Jahre weniger modernisiert worden. Nun werden alle Häuser neu hergerichtet. Da sei es schon schwierig zu reagieren, wenn einzelne Familien Ungerechtigkeiten empfinden, sind sich Frau Daemen, Frau Schneider und Herr Peckholdt einig. Für spezielle Fragen den Bau betreffend vermitteln sie kostenlosen Kontakt zu einem Bauberater.

Als Träger des Patenschaftsbüros arbeiten Caritas und Diakonie zusammen. Die Idee zu diesem Projekt hatte Harry Decker, der Geschäftsführer des DW Niederlausitz, unmittelbar nach dem Hochwasser entwickelt. Neben der Beratung in finanziellen Fragen und der Hilfe beim Ausfüllen verschiedener Anträge haben die Mitarbeiter des ökumenischen Projektes noch ein wichtiges Anliegen: Sie wollen den 62 von ihnen betreuten Familien zur Seite stehen und ihnen ermöglichen, Probleme und Ängste auszusprechen. Viele der Bewohner der Oderregion haben zum zweiten Mal in ihrem Leben ihren Besitz lassen müssen. Sie waren nach 1945 aus dem Gebiet des heutigen Polen geflüchtet. Einige Betroffene fürchten, das Hochwasser könnte wieder kommen. Bei starkem Gewitter könne sie nicht gut schlafen aus Furcht vor einer neuen Flut, sagte eine Frau. Viele Menschen fragen sich, warum gerade sie von einer solchen Katastrophe betroffen wurden. Und schließlich sind infolge des Hochwassers nicht nur Häuser, sondern zum Teil auch Familien kaputtgegangen. So ist die seelsorgerliche Hilfe eines der wichtigsten Anliegen des Patenschaftsmodells.


Auf dem Weg nach Aurith zu Familie Genz fährt der kleine Dienstwagen durch die Ziltendorfer Niederung - das Gebiet, das vom Hochwasser im vergangenen Jahr besonders schwer betroffen war. Sonja Daemen will sich nur kurz erkundigen, ob Brigitte Genz nach einem Krankenhausaufenthalt wieder zu Hause ist. Doch aus dem kurzen "mal reinschauen" wird ein längerer Besuch. Frau Genz erzählt von ihren gesundheitlichen Problemen, die ihr zu schaffen machen. Gemeinsam überlegen sie Lösungsmöglichkeiten. Nach einer Stunde wieder unterwegs durch die weitläufige Landschaft erklärt Sonja Daemen, daß die Felder rechts und links der Straße noch vor gut einem Jahr wie ein einziges großes Meer aussahen. Davon ist mittlerweile fast nichts mehr zu bemerken. Nur die Bäume, welche die Straßenränder einfassen, haben in diesem Jahr nicht alle getrieben. An ihren Stämmen sind noch hellere Stellen zu erkennen. Bis dahin hat das Hochwasser gestanden.

Die Abgeschiedenheit der Ziltendorfer Niederung und die landschaftliche Weite haben ihre Reize. In dieser Gegend hatte Familie Scholz aus Frankfurt an der Oder bereits vor einigen Jahren ein Haus mit Grundstück gekauft.

"So um die Wendezeit", erzählt Frau Scholz, "haben wir angefangen, an unserem Haus zu bauen". Die Familie hatte sich entschieden, das alte Siedlungshaus um- und auszubauen. Sieben Jahre investierten sie Zeit und Kraft. 1997 war es dann endlich so weit: Der Bau war abgeschlossen. Frau Scholz zeigt die Fotos von Pfingsten 97: "Ja, hier hat unsere Tochter beim Pflastern der Auffahrt mitgemacht", erklärt sie. In mühevoller Arbeit hatte sich die Familie ein schönes Zuhause eingerichtet, einen Garten mit Blumen und zwei Teichen angelegt. "Die Teiche hatte ich zuerst gemacht, noch vor dem Haus, damit ich dann zwischen den Arbeiten ein schönes Plätzchen zur Erholung habe", erzählt Herr Scholz.

Das Oder-Hochwasser machte die ganze Arbeit zunichte. Das geliebte Eigenheim mußte abgerissen werden. Fotos zeigen eine verfaulte Landschaft, wo vorher noch herrliches Grün geleuchtet hatte.

Nun bauen die Scholzens zum zweiten Mal innerhalb von zehn Jahren, diesmal mit Hilfe von Spendenmitteln. Diese Gelder sind auch für alle anderen Hochwasseropfer eine riesige Unterstützung. Doch ausschließlich mit Geld ist den Scholzens und all den anderen betroffenen Familien eben nicht geholfen.


Für Frau Daemen, die Sozialarbeiterin ist, und Herrn Peckholdt, einen katholischen Theologen, sind die Besuche bei "ihren" Familien das Herzstück ihrer Tätigkeit. Zu ihrem eigenem Bedauern haben sie jedoch manchmal zu wenig Zeit, in der Ziltendorfer Niederung unterwegs zu sein, da eine Menge an Büroarbeiten erledigt werden muß. So verbringt die dritte Kollegin, Angelika Schneider, den größten Teil ihrer Arbeitszeit am Computer in dem zirka 14 Quadratmeter großen Büro in Eisenhüttenstadt.

Hier in diesem kleinen Raum im Gemeindehaus der evangelischen Friedensgemeinde stehen zwei Schreibtische, ein Regal, ein Tisch, mehrere Stühle und ein Kopiergerät. An der Wand leuchtet ein großes Plakat: Keinem von uns ist Gott fern. Auf dem Flur des Gemeindehauses ist es heute ungewohnt ruhig; die Beratungsstelle nebenan ist heute geschlossen. Gerade klingelt das Telefon und wieder hört es sich wie ein Gespräch unter Freunden an, doch es ist Frau Abraham, eine Frau aus der Ziltendorfer Niederung. Auch dieses Gespräch ist also dienstlich.

Manchmal rufen Betroffene an und sagen: "Kommt doch mal wieder vorbei" . Ansonsten fahren Herr Peckholdt und Frau Daemen nach eigenem Ermessen in die Gegend unmittelbar an der Oder. Mitunter kommen sie auch und gratulieren persönlich zum Geburtstag. Frau Daemen ist gerade dabei, die Geburtstagsliste zu vervollständigen, damit keiner vergessen wird.

Als ein Handicap empfinden die Mitarbeiter des Patenschaftsprojektes, daß das Büro in Eisenhüttenstadt zu weit entfernt ist von den Ortschaften der Ziltendorfer Niederung. Früher konnte die Hilfe von Ziltendorf aus geleistet werden. Nun müssen sie zirka 15 Kilometer zurücklegen, um zu den Familien zu kommen. Über 9000 Kilometer zeigt der Zähler im kleinen, weißen Dienstwagen bereits an. Bei einer Arbeit vor Ort würden sicherlich mehr Betroffene die Büro-Sprechzeiten nutzen.

Das Deutsche Rote Kreuz und auch der Norddeutsche Rundfunk haben das Patenschaftsmodell in einer ähnlichen Weise übernommen. Die Koordinierungsstelle des Landkreises Oder-Spree, die ihren Sitz auch in Eisenhüttenstadt hat, ist ein "Treffpunkt" der drei Paten-Verbände. Hier wird registriert, wieviel Geld jede Familie bereits erhalten hat. Zudem werden einheitliche Regelungen vereinbart.

Frau Scholz ist jedenfalls mit der Betreuung durch die beiden kirchlichen Verbände sehr zufrieden und betont, daß sie sich überhaupt nicht beklagen kann. Sie vermutet, daß der größte Teil der anderen 61 Familien ebenfalls sehr zufrieden ist. Sonja Daemen erzählt, daß es allerdings auch Betroffene gibt, zu denen der Kontakt nur flüchtig ist, oder Familien, die weniger Hilfe brauchen.




Wenn die finanzielle Betreuung - voraussichtlich Ende des Jahres - abgeschlossen wird, erwarten die Mitarbeiter mehr Gelegenheit für persönliche Hilfe. Zeit und Geduld sind nötig, das weiß Frau Daemen, um miteinander vertraut zu werden. "Ich will mir auch einfach viel mehr Zeit nehmen, die Leute zu besuchen", sagt sie während einer Fahrt durch Aurith. Plötzlich winkt sie einem Mann am Straßenrand zu. Er gehört nicht zu den Familien, die von Caritas und Diakonie Hilfe bekommen, aber sie haben sich doch über die Monate kennengelernt und machen bei Gelegenheit auch mal ein Schwätzchen.

Sonja Daemen und Jürgen Peckholdt fahren durch die Ortschaften und wissen von fast jedem Haus, wer darin wohnt. Mit der Zeit kennen sie die Gegend wie ihre Westentasche und wissen auch, vor welchen Hunden man sich in acht nehmen muß.

Bis Ende 1999 wird die Arbeit im Patenschaftsbüro voraussichtlich noch laufen. Und bis dahin ist der kleine Dienstwagen sicher noch oft unterwegs zu Menschen wie den Scholzens, die langsam wieder in einen normalen Lebensrhythmus finden.

Juliane Hutmacher

Weitere Informationen

zu diesem Hilfsprojekt sind

in einer Broschüre erhältlich bei: Caritasverband für

das Erzbistum Berlin e.V., Tübinger Str. 5 in 10715 Berlin,

Tel. 0 30 / 8 57 84-0

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 45 des 48. Jahrgangs (im Jahr 1998).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 08.11.1998

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