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Aus der Region

Ein europäischer Skandal

Kolloquium zu Heuersdorf

Heuersdorf - Geht aus dem vom Braunkohleabbau bedrohten kleinen Dorf Heuersdorf bei Leipzig ein Impuls zur Reformierung der Energiepolitik in der Bundesrepublik Deutschland aus? Es könnte so sein, wenn sich die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft den Argumenten der Heuersdorfer, der alternativen Energieexperten und vieler anderer Engagierter öffnen würden. Doch noch immer stehen sich David und Goliath gegenüber, David das sind die Heuersdorfer, Goliath die Mitteldeutsche Braunkohlen AG (MIBRAG) und die sächsische Staatsregierung.

Unterstützung erhalten die Heuersdorfer inzwischen von vielen Seiten. So kam es am diesjährigen Reformationstag zu einem Kolloquium, zu dem die deutsche Sektion des Europäischen Verbandes für den ländlichen Raum e.V. "ECOVAST" in die Taborkirche des Ortes eingeladen hatte. Allerdings, so Angus Fowler, fand diese Veranstaltung unter Mißbilligung der sächsischen Staatsregierung statt. Der Vorsitzende der deutschen ECOVAST-Sektion, Prof. Detlev Simons, kündigte aber an, im Namen aller Anwesenden gegen diese Mißbilligung zu protestieren. Er kritisierte auch, daß keine der Gegenseiten der Einladung folgten. In den alten Bundesländern, so Simons weiter, sei solch eine Verfahrensweise undenkbar.

Der Heuersdorfer Bürgermeister Horst Bruchmann wies zu Beginn auf die Situation der Gemeinde hin. Zum 1. Januar 1999 steht nach dem Willen der sächsischen Staatsregierung die Zwangseingemeindung nach Regis-Breitingen ins Haus. Damit verliert Heuersdorf seine kommunale Selbstständigkeit und ist im Grunde politisch mundtot gemacht. Bruchmann sagte wörtlich: "Das Planungsrecht hat die Gemeinde, und wenn sich diese widersetzt, dann muß sie mundtot gemacht werden." Seiner Meinung nach geht es im Konflikt um Heuersdorf schon lange nicht mehr um Argumente, sondern um eine Frage der Macht.

Noch einmal erinnerte Horst Bruchmann an das Anliegen der Heuersdorfer, daß die Bagger den Ort umfahren können. Dafür brachte er das Argument ins Spiel, daß es heute keineswegs mehr sicher sei, daß der Absatz der im neuen Kraftwerk Lippendorf produzierten Energie auf Dauer gesichert sei.

Hintergründe zur Energiepolitik vermittelte der Energiebeauftragte der Gemeinde Heuersdorf, Jeff Michel. Schon jetzt seien 30 000 Megawatt nicht vermarktbar, meinte Michel. Die Planung des Kraftwerkes Lippendorf habe sich an inzwischen völlig überholten Energieprognosen ausgerichtet, der Bedarf werde in den kommenden Jahren sogar weiter fallen. Was derzeit von den Heuersdorfern verlangt wird, ist für Jeff Michel politische Schizophrenie, auf der einen Seite können sie sich politisch für einen Energiewandel einsetzen, auf der anderen, wirtschaftlichen Seite wird von ihnen verlangt, dem Abbruch ihres Ortes für eine althergebrachte Energiepolitik zuzustimmen. Das neue, im Bau befindliche Kraftwerk Lippendorf ist für Michel eine Fehlinvestition, ein "Denkmal einer vergangenen Zeit". Abschließend betonte Jeff Michel, daß die Heuersdorfer mit ihrem Widerstand gegen die "Überbaggerung" ihres Ortes auch für andere Menschen kämpfen, auch für diejenigen, die noch nicht geboren sind.

Arbeitspolitische und soziologische Fragen waren Inhalt der Ausführungen von Dr. Leonhard Kasek. Derzeit würden 4 000 Menschen in Bergbau und Kraftwerk arbeiten, doch gehe der Abbau an Arbeitsplätzen weiter. Der vor Jahren genannten Zahl von zirka 10 000 Arbeitsplätzen in Zusammenhang mit demNeubau des Kraftwerkes Lippendorf, stehen der weitere Stellenabbau und eine geringe geplante Beschäftigungszahl von nur 280 Personen im eigentlichen Kraftwerk gegenüber. Und auch im Tagebau Schleenhain, der zum modernsten Tagebau umgestaltet werden soll, würden wenige Menschen, dafür aber viele Maschinen arbeiten. Insgesamt, so Leonhard Kasek, werden nur 3 Prozent der Menschen im Energiebereich arbeiten, 97 Prozent brauchen Arbeit in anderen Bereichen.

Leonhard Kasek untermauerte weiter das Argument vom sinkenden Energiebedarf. Er sagte: "Jeder Verbraucher zahlt einige hundert Mark zuviel für Energie, weil er nicht weiß, wo er einsparen kann." Zugleich wies er darauf hin, daß die Zerstörung eines natürlich gewachsenen intakten Siedlungsraumes, die soziale Entwurzelung und Verwahrlosung zur Folge habe.

Nach Heuersdorf kam auch der Philosoph und Bürgerrechtler Wolfgang Templin. Er zeigte sich enttäuscht darüber, daß es nur wenige Jahre nach Ende der DDR wieder möglich geworden ist, "mit Tricks und Schiebereien" Dinge über die Köpfe der Menschen hinweg durchzusetzen. Templin und alle Anwesenden machten den Heuersdorfern und dem Verein zur Rettung Heuersdorfs Mut, nicht aufzugeben. Die teilnehmenden Mitglieder von ECOVAST aus England, Frankreich, der Slowakischen Republik und aus Rumänien wollen sich in ihrer Heimat für Heuersdorf einsetzen. DerVertreter aus England betonte: "Heuersdorf ist ein europäischer Skandal."

Den Einwohnern tat das Kolloquium gut. Oder wie es Horst Bruchmann abschließend betonte: "Es war, als zöge man einen Ertrinkenden für kurze Zeit am Schopfe aus dem Wasser, dankbar wird er seine Lungen aufs neue mit Luft füllen." Jetzt hoffen alle, daß es bald eine Entscheidung für den Ort geben wird. Der Widerstand jedenfalls weiter.

Und Angus Fowler betonte mutmachend: "Man kann auch noch um Mitternacht gewinnen."

(jak)

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 45 des 48. Jahrgangs (im Jahr 1998).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 08.11.1998

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