Eine Heilige zum Anfassen
Hildegard-Tag
Görlitz (jh) - Zu einem besonderen Tag hat die Gemeinde St. Jakobus in Görlitz am vergangenen Samstag die Grundschulkinder aller katholischen Pfarreien der Stadt eingeladen. Zwischen 10.30 Uhr und 16.00 Uhr tummelten sich etwa 90 "Knirpse" in den Räumen des St.-Stephanus-Hauses
Gabriele Kretschmer, die Gemeindereferentin der Jakobus-Gemeinde hatte mit Unterstützung der katholischen Jugend einen Tag vorbereitet, an dem die Kinder viel über die heilige Hildegard von Bingen erfahren konnten
Als eine Heilige "zum Anfassen" konnten alle Anwesenden die Ordensfrau Hildegard kennenlernen. Zur "Erwärmung" sangen die Kinder und auch die Erwachsenen nach dem Eröffnungs-Gongschlag einige Lieder. Danach waren die Hummeln in den Kinderbäuchen erst einmal soweit ruhiggestellt, daß das vorbereiteteTheaterstück beginnen konnte
Von einer Erzählerin erfuhren die Kinder, von der Geburt der Hildegard in Bermersheim als zehntes Kind ihrer wohlhabenden Eltern. Sie hörten, daß sie als kleines Mädchen sehr kränklich gewesen sei. Bereits mit acht Jahren hatten ihre Eltern sie zur Erziehung in einen Frauenkonvent gegeben, dem sie sich im Jugendalter freiwillig verpflichtete. Die Mädchen und Jungen erfuhren von der großen Unruhe, die damals im zwölften Jahrhundert in der Politik und auch im geistlichen Leben herrschte. Eine mittelalterliche Klosterkulisse, originalgetreue Gewänder und 900 Jahre alte Musik versetzten die Kinder in vergangene Zeiten. So war die Brücke zum Mittelalter schnell geschlagen. Gespannt verfolgten die Kinder das Geschehen, das sich auf der Bühne abspielte: Ordensfrauen, Äbte, arme und reiche Leute des zwöllften Jahrhunderts und natürlich Hildegard von Bingen erschienen und zeigten den Mädchen und Jungen Szenen, die sich so oder ähnlich im Kloster auf dem Disibodenberg abgespielt haben könnten. Die kleinen Zuschauer lernten Hildegard als eine Frau kennen, die mit einem offenen Ohr ihren Mitmenschen begegnete, die Kranke und auch Besessene heilte, und als "Sprachrohr Gottes" die Dinge erzählte und aufschrieb, die Gott ihr in Visionen gezeigt hatte. Aber auch ihre Tätigkeit als Naturforscherin, Komponistin, Dichterin und Ärztin konnten die Kinder bestaunen
Nach ausführlicher Lektüre von Büchern über die Heilige hatte Gabriele Kretschmer das Schauspiel selbst geschrieben und mit den Jugendlichen der Görlitzer Pfarrgemeinden einstudiert. Sie wollte den Kindern die gottesfürchtige, mutige und in alle Richtungen maßhaltende Hildegard vorstellen. Denn einen solchen Eindruck hatte sie von der Ordensfrau gewonnen. Ihr Wunsch ist es, daß diejenigen, die den Tag miterlebt haben, erstaunt sagen: "... und das hat eine Nonne gemacht!"
Nach dem Schauspiel begrüßte Bischof Müller die Kinder. Am Nachmittag hatten die Grundschüler dann Gelegenheit, einiges vom Gehörten praktisch auszuprobieren. In verschiedenen Gruppen beschäftigten sie sich wie ihre bekannte Vorfahrin mit Kräutern, Edelsteinen, Musik und Wörtern. In einer Gruppe konnten sie verschiedene Kräutersorten kennenlernen. Ein kleines Quiz gab es auch. Sogar einfache Rezepte konnten einige der Mädchen und Jungen ausprobieren - das Ergebnis wurde beim abschließenden Kaffeetrinken verkostet. Andere Gruppen boten den Kindern Informationen zu Edelsteinen, die Gruppenleiter zeigten zum Beispiel alte Steine, erzählten deren Geschichte und machten die Kids mit den Forschungen Hildegards über Edelsteine betraut. Sogar ein Lied lernten die Kinder, dessen Melodie und Text von der Heiligen geschrieben wurden. Es entwickelte sich zu einem richtigen Ohrwurm, der auch beim Kaffeetrinken noch hier und da zu hören war. Zwischendurch war auch Zeit eingeplant, Lieder zu singen und mal so richtig rumzutoben. In all diesen Gruppen und auch bei der Vorbereitung von Mittagessen und Kaffeetrinken halfen einige Mütter und die Jugendlichen der Görlitzer Pfarreien mit
Katholische Kindertage sind für die Görlitzer nichts Neues. Zweimal im Jahr geht es flott her. Im Februar feiern die Kinder zusammen Fasching und im November gibt es um die Zeit von Allerheiligen jedes Jahr eine Menge über bedeutende Heilige zu erfahren. Doch seit der enorme Vorbereitungsaufwand für Gabriele Kretschmer vor einigen Jahren alleine nicht mehr zu schaffen war, konnten die Kindertage nur noch für einzelne Pfarreien stattfinden. Aktuell wurden die Tage erst wieder in diesem Jahr, als der Religionsunterricht entgültig in die Schule verlagert wurde
Für Gabriele Kretschmer und auch für viele Priester in Görlitz ist es ein wichtiges Anliegen, daß die Kinder Angebote in der Gemeinde bekommen und annehmen, "damit Glaube nicht mit dem Gottesdienstbesuch und dem Religionsunterricht in der Schule abgehakt wird". Das Leben im Glauben, so meint sie, können die Kinder doch in einer Gemeinde lernen
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 15.11.1998