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Aus der Region

Was Schönebeck der Hauptstadt voraus hat

Holocaust-Mahnmal

Schönebeck - Was in Berlin unter endlosen Diskussionen zu scheitern scheint, hat in der 40 000-Einwohner-Stadt Schönebeck geklappt: Am 9. November wurde im Schönebecker Stadtzentrum ein Holocaust-Mahnmal enthüllt. Auch hier ließ sich das Vorhaben allerdings nicht von heute auf morgen und ohne Kontroversen verwirklichen. Bereits vor mehr als zehn Jahren hatte der Baptist Nikolaj Tschalamoff die Idee gehabt, die 42 jüdischen Mitbürger von Schönebeck, die dem Nazi-Terror in den Gaskammern zum Opfer gefallen waren, mit einem Mahnmal zu ehren. Der 50. Jahrestag der Pogromnacht schien ihm dafür der geeignete Zeitpunkt

Zu DDR-Zeiten war es nicht möglich, den Plan umzusetzen. Später stieß Tschalamoff auf unterschiedlichste Vorbehalte. "Lassen Sie lieber die Finger davon. Dadurch ziehen Sie nur die Rechten in unsere Stadt", wurde er gewarnt. Andere verwiesen darauf, daß es in Schönebeck bereits eine Gedenktafel gebe, die an die Opfer des Faschismus erinnere. Auf der Tafel im Rathaus sind allerdings ausschließlich die Namen kommunistischer NS-Opfer zu lesen

In seinem katholischen Freund Christof Grüger fand Tschalamoff jemanden, der sein Anliegen teilte. Der Künstler kann sich noch gut an die Pogromnacht erinnern. In seinem schlesischen Heimatort Namslau lebte der damals 11jährige mit seiner Familie unmittelbar neben der Synagoge. Er hörte, wie dort in der Nacht zum 9. November randaliert wurde und bekam mit, wie einige seiner Schulkameraden weggebracht wurden. Später ging er zur Synagoge, um sich die Spuren der Verwüstung anzuschauen. Er nahm einige deformierte Sakralgegenstände an sich und vergrub sie in einer "romantischen" Anwandlung ("Ich hatte gerade die Schatzinsel gelesen") im elterlichen Garten. Erst Jahre danach erfuhr er, daß er intuitiv genau das Richtige getan hat: In der jüdischen Religion ist es ebenso wie in der christlichen Brauch, nicht mehr benutzte religiöse Gegenstände in die Erde zu graben

All diese Erlebnisse sah Christof Grüger immer wieder vor sich, als er an den Entwürfen des Holocaust-Mahnmals arbeitete. Von Anfang an hatte er den Gedanken, die Namen der Schönebecker Holocaust-Opfer um zwei Davidssterne herum zu gruppieren: Einen rostigen, gewaltsam verbogenen und dahinter durchschimmernd einen metallisch glänzenden aus Edelstahl. Zunächst plante er, die Namen der umgebrachten Juden auf Strahlen zu schreiben, die von den Davidssternen ausgehen sollten. Die Strahlen erinnerten ihn jedoch zu sehr an die Gestaltung eines nahegelegenen Kriegerdenkmals. Eine zweite Variante mit Flügeln anstatt der Strahlen scheiterte ebenfalls an einer ungewollten Assoziation: "Es sah aus wie das alte Reichsbahn-Emblem". Zufrieden war Christof Grüger erst mit seiner dritten Idee

Auch Vertreter des israelischen Konsulats in Berlin, des jüdischen Landesverbandes Sachsen-Anhalt und jüdische ehemalige Schönebecker, die den Holocaust überlebt haben, drückten ihm in Briefen und Grußworten ihre Freude über das Konzept aus. Das Mahnmal, das Schönebecker Bürger und Besucher seit 9. November einen Steinwurf weit entfernt vom Rathaus sehen können, zeigt ein Paar große geöffnete Hände, die den zerstörten Davidstern aufzufangen scheinen. Sein Freund Nikolaj Tschalamoff machte Grüger darauf aufmerksam, wie gut zu dieser Darstellung folgender Bibelvers aus dem Alten Testament paßt: "Ich vergesse dich nicht. Siehe! In meine Hände habe ich dich eingegraben" (Jesaja 49,16). In einen schwarzen Stein, der sich zufällig in dem für das Mahnmal vorgesehenen Abschnitt der alten Stadtmauer befand, wurde dieser Vers eingemeißelt. Erst im Laufe der Planungen hatten die Beteiligten den Katasterunterlagen entnommen, daß genau an dieser Stelle bis 1911 der erste jüdische Friedhof der Stadt gelegen hatte. Vor dem Mahnmal hat Grüger ein Kieselbett anlegen lassen, damit dort jüdisches Totengedenken möglich wird

Die Freude über den neugestalteten Ort des Gedenkens ist bei Grüger und Tschalamoff mit Sorge gemischt. Die Angst vor Anschlägen sollte sie zwar nicht von ihrem Vorhaben abhalten, völlig ignorieren läßt sie sich aber auch nicht. Seit die Mahnmals-Pläne Stadtgespräch wurden, ist Tschalamoff wiederholt auf offener Straße als "Judenpriester" oder "Judensau, daß sie dich nicht vergast haben!" betitelt worden. Die Firmen, die an der Anfertigung des Denkmals beteiligt waren, wollten aus Vorsicht vor möglichen antisemitischen Übergriffen nicht im offiziellen Vorstellungsprospekt erwähnt werden

"Es gehört zur Würde einer Stadt, auch eine Bürde zu tragen", sagte Tschalamoff am 9. November. Längst hat sich eine beträchtliche Gruppe von Schönebeckern gefunden, die sich offen dazu bekennt, die Bürde mitzutragen: Sie haben sich unter dem Dach des Elb-ufer-Fördervereins zu einer "Initiativgruppe Holocaust-Mahnmal" zusammengeschlossen haben. Unter anderem gehört dieser Gruppe Dr. Günther Kuntze an, der für das Heimatmuseum des Ortes eine Broschüre über Juden in Schönebeck verfaßt hat. Ganze Schulklassen nahmen an der Mahnmal-Enthüllung teil. Einige Bürger zogen am Abend in einem Schweigemarsch an den ehemaligen Wohnhäusern der Juden vorbei. In der baptistischen Gemeinde ist das Gedenken an die jüdischen Mitbürger besonders wach. Seit 1986 nutzen die Baptisten die umgebaute frühere Synagoge als Gemeindezentrum

Dorothee Wanzek

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 47 des 48. Jahrgangs (im Jahr 1998).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 22.11.1998

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