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Aus der Region

Zum 80. Geburtstag der österreichischen Dichterin Jeannie Ebner

Porträt

Wenn nach den bedeutenden österreichischen Dichterinnen der Gegenwart gefragt wird, ist zumeist von Elfriede Jelinek, der diesjährigen Büchner-Preisträgerin, und von Friederike Mayröcker die Rede. An Jeannie Ebner hingegen denken nur wenige. Dabei ist sie nicht nur eine große Dichterin mit umfangreichem Werk, sondern hat auch als langjährige Redakteurin der Zeitschrift "Literatur und Kritik" großen Einfluß auf die Entwicklung der österreichischen Literatur ausgeübt. In dieser Zeit, in der sie viele Schriftsteller unterstützt und gefördert hat, verzichtete sie weithin auf eigenes Schreiben. Sie hat ihre Stellung nie ausgenutzt, um ihr eigenes Werk bekannt zu machen. Diese Zurückhaltung ehrt sie

Geboren wurde sie am 17. November 1918 in Sydney. Ihr Vater, ein älterer Bruder des Philosophen Ferdinand Ebner, war als Kaufmann in Australien beschäftigt. Aufgewachsen ist Jeannie Ebner in der Wiener Neustadt, wohin sie in ihren Büchern oft zurückkehrt. Sie arbeitete als Spediteurin und studierte daneben Bildhauerei. Nach dem Krieg verdiente sie sich ihren Lebensunterhalt mit kunstgewerblichen Arbeiten und mit Nachhilfestunde in Englisch. Als sie 1950 arbeitslos wurde, begann sie ihren ersten Roman zu schreiben, "Sie warten auf Antwort". Seither hat sie Romane, Erzählungen, Novellen, Gedichte und Tagebücher veröffentlicht. Das Besondere ihrer Bücher liegt in der großen Nüchternheit. Nicht zufällig hat sie einen Teil ihrer Tagebücher 1993 unter dem Titel "Der Genauigkeit zuliebe" veröffentlicht. Auf Genauigkeit kommt es ihr an, auf Genauigkeit vor allem in den Beziehungen der Menschen zueinander und auf Genauigkeit in ihren Gefühlen. Das bedeutet nicht, daß Jeannie Ebner das Pathos nicht kennt, die Leidenschaft, die Trauer, die Ironie oder die Verzweiflung. Aber sie bleibt dabei ehrlich, vor allem sich selbst gegenüber. Tief verwurzelt ist sie in der christlichen Überlieferung und in den antiken Mythen. Sie versucht, Christentum und griechischen Geist zusammenzubringen, und das nicht nur in theoretischen Abhandlungen sondern in spannenden Erzählungen ("Othon sucht Götter und Tote", "Der fremde Jüngling"). Ihre großen Romane folgen oft antiken und mythischen Mustern, zum Beispiel "Die Wildnis früher Sommer", 1958. In ihren neueren Büchern zeigt Jeannie Ebner die Gesellschaft aufgespalten in viele Einzelschicksale, die zusammen aber doch das Bild einer weitverzweigten Familie ("... und hat sein Geheimnis bewahrt", 1991)

Die Dichterin ist durchdrungen von der Überzeugung, daß jeder Mensch eine eigene Berufung besitzt und davon abgeleitet auch einen eigenen Auftrag. "Ich habe einen Auftrag mitbekommen, den ich noch nicht erfüllt habe." Und sie weiß, daß sie ihn vermutlich nicht erfüllen wird. Am Ende unseres Lebens wird "unser Auftrag, den wir versäumten, in tödlicher Schönheit uns noch einmal gezeigt und sodann vor unseren Augen vernichtet." Das heißt, sie fürchtet, wir könnten unser Leben verfehlen. Seit 1946 lebt Jeannie Ebner wieder in Wien. Ihr Werk gilt es noch zu entdecken

J. Israel

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 47 des 48. Jahrgangs (im Jahr 1998).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 22.11.1998

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