Auszüge aus der Rede von Chiara Lubich
Ansprache
... Wenn wir heute versuchen wollen, die Folgen so vieler Sünden wiedergutzumachen, müssen wir den Blick auf den Ursprung unseres gemeinsamen Glaubens richten, auf Gott, der Liebe ist. Er muß heute den Kirchen gleichsam neu aufgehen. Wie könnten wir die anderen lieben, wenn wir uns nicht zutiefst geliebt fühlten, wenn nicht in uns Christen die Gewißheit lebendig wäre, daß Gott uns liebt? Und er liebt uns nicht nur als einzelne Christen, sondern auch als Kirche
Er liebt die Kirche mit all dem, was sie durch die Jahrhunderte hindurch dem Plan Gottes entsprechend gewirkt hat. Doch er liebt sie auch - und hier begegnen wir dem Wunder der Barmherzigkeit Gottes - mit dem, was diesem Plan entgegenlief, mit der Spaltung der Christen (die jedoch nun wieder die volle Gemeinschaft suchen, wie Gott sie gewollt hat)
... Doch wenn Gott uns liebt, können wir diesem göttlichen Wohlwollen gegenüber nicht tatenlos bleiben. Jede Kirche ist im Lauf der Jahrhunderte gewissermaßen in sich erstarrt, weil Gleichgültigkeit, Verständnislosigkeit oder gar Haß gegenüber den anderen Kirchen sich breit gemacht haben
Deshalb braucht es heute in jeder Kirche ein Mehr an Liebe. Ein Strom der Liebe müßte die Christenheit erfassen. Gegenseitige Liebe also unter den Christen und unter den Kirchen. Eine Liebe, die dazu führt, daß jeder ein Geschenk für die anderen wird. Man könnte sich die Kirche der Zukunft so vorstellen, daß die Wahrheit nur eine einzige ist, sich aber auf verschiedene Weise ausdrückt, unter verschiedenen Blickwinkeln erschlossen wird und in einer Vielfalt von Deutungen ihren ganzen Reichtum ans Licht bringt ..
Es ist nicht so, daß die eine oder andere Kirche untergehen muß, wie manchmal befürchtet wird. Jede soll vielmehr in der Einheit neu erstehen. In voller Gemeinschaft in dieser einen Kirche zu leben, wird etwas Großartiges sein, faszinierend wie ein Wunder, das die Aufmerksamkeit und das Interesse der ganzen Welt auf sich lenkt
Aber die gegenseitige Liebe entspricht nur dann wirklich dem Evangelium, wenn sie in dem Maß praktiziert wird, wie Jesus es uns vorgibt: "Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe. Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt." (Joh 17,21)..
Für eine erfolgreiche Ökumene braucht es Menschen, die sich vom gekreuzigten und verlassenen Jesus ergreifen lassen und ihm nicht ausweichen. In ihm finden diese Menschen das Licht und die Kraft, nicht beim Trauma, beim Riß der Trennung stehenzubleiben, sondern stets darüber hinauszugehen und gerade so - soweit es irgend möglich ist - zu Lösungen zu kommen ..
Wenn wir Christen in dieser Weise lieben, werden wir auch mehr Licht haben, um in den anderen Religionen die "Saatkörner des Wortes" entdecken zu können. In den nichtchristlichen Religionen läßt sich nicht selten ein Strahl jener Wahrheit erkennen, die Christus offenbart hat. Dies wird uns den Angehörigen der anderen Religionen näherbringen und zu einem tieferen gegenseitigen Verständnis beitragen..
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 29.11.1998