Fördergelder für Behinderte nicht mehr selbstverständlich
Caritas-Einrichtungen
Ershausen/Heiligenstadt (jh) - Uwe kommt den Besuchern des Hauses entgegen. Freudestrahlend präsentiert er die Post von seinen Eltern. Auch eine Schallplatte hat er mitgebracht. Uwe ist nämlich ein richtiger Schallplattenfan. Matthias ist ruhig. Seine Arbeit macht er in Ruhe und so gut er kann. Steffen malt eine große Brücke. Darunter fließt Wasser und oben auf der Brücke gehen vier Leute spazieren. Ihm fällt ein, daß er ein Geländer an die Brücke malen könnte, damit die Leute, die darauf laufen, nicht runterfallen. Uwe, Matthias und Steffen arbeiten in der Werkstatt für Behinderte in Heiligenstadt, einer Einrichtung, die Mitglied ist im Caritasverband Thüringen. Sie alle drei werden in der Werkstatt gefördert. Ähnlich wie die Werkstätten wollen auch Wohnheime den Menschen mit Behinderungen eine Entfaltung ihrer unterschiedlichen Interessen und Fähigkeiten ermöglichen - so wie Uwe, Matthias und Steffen sie erfahren
In ihren Werkstätten und Wohnheimen ist es für die Caritas wichtig, Menschen mit Behinderungen umfassend und individuell zu unterstützen. Die Mitarbeiter der Einrichtungen wollen den Behinderten helfen, ihren Alltag zu meistern und sich außerhalb ihrer Arbeits- oder Wohnstätte zurechtzufinden. So sollen sie in ein Leben unter Nichtbehinderten integriert werden
Doch dieses, für die Caritas wie auch für die Arbeit der Diakonie unerläßliche Angebot einer Förderung, wird durch die sozial-politischen Entwicklung der letzten Jahre in Frage gestellt. Seit 1996 kam es im sozialen Bereich zu vermehrten Einsparungen. Die Situation spitzte sich immer mehr zu, so daß die Förderung mittlerweile nicht mehr für alle Menschen mit Behinderungen selbstverständlich ist. Die Kosten, die bisher vom Sozialhilfeträger gezahlt wurden, um die Behinderten zu fördern und ihr Leben so zu bereichern, sollen zukünftig im Zuge von Einsparungen vermehrt auf Gelder aus der Pflegeversicherung "umgelagert" werden. Da die Leistungen aus der Pflegeversicherung die angestrebten umfassenden Eingliederungsmaßnahmen nicht berücksichtigen, würden einige der Behinderten nur noch gepflegt, aber nicht mehr in ihrer persönlichen Entwicklung unterstützt
Konkret sind von diesen Einsparungen hauptsächlich die Wohnheime für Behinderte betroffen. Einigen der älteren Bewohner über 65 Jahren wurde die Hilfe zur Eingliederung nicht mehr zugestanden. Für sie sollen nun wegen ihres Alters Leistungen zur Pflege aus der Pflegeversicherung genügen
Die Referenten für Behindertenhilfe von Caritas und Diakonie erklärten in einer gemeinsamen Stellungnahme: "Die Eingliederungshilfe ist die richtige, die umfassende, die bedarfsdeckende Hilfe für alle Menschen mit Behinderung, unabhängig vom Alter oder von Art und Umfang der Behinderung."
Mit den Wohnheimen für Behinderte haben Caritas und Diakonie Raum geschaffen, in dem den Bewohnern nicht nur eine Grundversorgung zuteil wird, sondern sie eine Bereicherung ihres Leben erfahren. Neben einer gesundheitlichen Betreuung und der Hilfe an unterschiedlichen Stellen im Tagesablauf, etwa bei der Körperhygiene oder beim Kochen und Essen, gibt es viele Freizeitbeschäftigungen, die das Leben reicher machen. Sportliche Betätigung, Bastelarbeiten, Singegruppen, Religionsunterricht, Kinobesuche und Kochkurse sind meistenteils genauso im Angebot wie gemeinsame Urlaubsfahrten und das Feiern von kirchlichen Festen im Jahreskreis. Den Menschen mit Behinderungen steht auch eine seelsorgerliche Betreuung offen. Die Orte, in denen die Behinderten wohnen, sollen für sie Heimat sein und Gelegenheit zur Integration bieten. So gibt es hin und wieder Feiern und Veranstaltungen in enger Zusammenarbeit mit der Kommune, den Kirchgemeinden und unterschiedlichen Vereinen der Ortschaften. Die privaten Bereiche in den Wohnheimen sind individuell gestaltet. In kleineren Wohngruppen sollen die Behinderten eine familienähnliche Wohngemeinschaft erleben
52 ältere Menschen die in katholischen Einrichtungen der Behindertenhilfe im Bistum Erfurt leben, zu einem großen Teil Bewohner des St.-Johannes-Stiftes in Ershausen, sind von den Einsparungen betroffen. Sie erhalten nur noch finanzielle Unterstützung für Pflegemaßnahmen. Teilweise bekommen sie inzwischen sogar lediglich die Kosten für Unterkunft und Verpflegung gezahlt
Die Thüringer Sozialministerin Irene Ellenberger (SPD) erklärte während einer Podiumsdiskussion Ende Oktober in Erfurt, daß die Ausgaben der Regierung im sozialen Bereich seit 1991 stetig angestiegen seien. Unter Würdigung der Behindertenförderung wies sie auf den begrenzten finanziellen Handlungsspielraum der Regierung hin
Für die Caritas ist die gegenwärtige Entwicklung ein deutlicher Schritt zurück in die Verhältnissen der DDR. Dort beschränkten sich die staatlichen Leistungen für Behinderte zumeist auf Pflege und nicht auf Eingliederung in das übrige gesellschaftliche Leben
Der Unterschied zwischen Einrichtungen der Behindertenhilfe und einer Pflegeeinrichtung sind erheblich: In einer Behinderteneinrichtung können die Bewohner einen individuelleren Lebensstil entfalten als auf einer Pflegestation, wo sie sich an festgefügte Abläufe anpassen müßten. Sie haben die Chance, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und den Umgang miteinander zu meistern, anstatt nur auf sich selbst und ihr kleines Umfeld orientiert zu sein
Nach den finanziellen Einschränkungen hätten die Behinderten-Einrichtungen eigentlich Betroffenen kündigen müssen. Da sie aber niemanden "auf die Straße setzen" wollen, legen sie die Gelder aus, ohne zu wissen, ob ihnen diese Auslagen zurückerstattet werden
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 29.11.1998