Politiker und Kirchenvertreter zum Wirtschafts-Memorandum
Statements
Erfurt (bip/ep) - Bisherige gesellschaftliche Regelsysteme wie das Sozial- und das Steuersystem sind an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gelangt, möglichst alle Menschen gerecht an den Einkünften der Gesellschaft zu beteiligen. Mit Verteilung allein ist auch angesichts der hohen Arbeitslosigkeit nicht mehr weiterzukommen. Teilen des gesellschaftlichen Einkommens darf nicht mehr nur Verteilen sein, sondern muß den Empfänger zum Engagement in der Gesellschaft motivieren. Soziale Leistungen müssen die Eigenverantwortung fördern und Eigenpotentiale aktivieren. Beteiligungsgerechtigkeit tut Not
In dieser Auffassung stimmten Thüringer Landespolitiker, Kirchenvertreter und Sozialethiker bei einem Hintergrundgespräch überein, das sich dem Memorandum "Mehr Beteiligungsgerechtigkeit. Beschäftigung erweitern, Arbeitslose integrieren, Zukunft sichern: Neun Gebote für die Wirtschafts- und Sozialpolitik" widmete. Zu der Diskussion hatte der Leiter des Katholischen Büros, Ordinariatsrat Winfried Weinrich, Thüringer Wirtschafts-, Sozial-, Finanz- und Bildungspolitiker in das Bischöfliche Ordinariat Erfurt eingeladen. Kirchlicherseits nahmen an dem Gespräch Bischof Joachim Wanke, Diözesan-Caritasdirektor Bruno Heller und der Erfurter katholische Sozialethiker Prof. Dr. Michael Schramm vom Philosophisch-Theologischen Studium teil
Das Memorandum "Mehr Beteiligungsgerechtigkeit" mit seinen "Neun Geboten für die Wirtschafts- und Sozialpolitik" steht in der Tradition des Gemeinsamen Wortes der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland. Während im Sozialwort der Gesichtspunkt des Teilens dominiert, wolle das Memorandum mit seiner Hinwendung zur Beteiligungsgerechtigkeit neue Wege weisen. Darauf wies Professor Schramm hin. Für den Sozialethiker ist der Begriff "Beteiligungsgerechtigkeit" ein "hilfreiches Logo" für einen notwendigen Grundkonsens in der Gesellschaft
Massive Kritik am deutschen Bildungssystem übte der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Thüringer Landtag, Frieder Lippmann. Das Bildungswesen sei den Anforderungen der Arbeitswelt nicht mehr gewachsen. Defizite bestünden vor allem im geringen Praxisbezug, in zu langen universitären Bildungsgängen und unzureichender weiterführender beruflicher Bildung, während sich andererseits die Produktionszyklen immer mehr beschleunigten. Schon in der Schule und in der beruflichen Ausbildung müßten Kenntnisse über die Zusammenhänge des Wirtschaftslebens und der Arbeitswelt vermittelt werden. Deutlicher wurde der Thüringer Wirtschaftsminister Franz Schuster (CDU). Die Wirtschaft nehme die "Produkte" der Schulen - die Schüler - immer weniger ab, weil es ihnen an Grundfertigkeiten fehle. Größere Chancen hätten Abiturienten
Schuster sieht in dem Memorandum ein "hilfreiches Papier für die Politik". Er forderte mehr Eigenverantwortung statt mehr Staat, sprach sich aber gleichzeitig gegen einen massiven Abbau des Sozialstaates aus. Die hoheitlichen Aufgaben des Staates müßten auf die Kernaufgaben reduziert werden
Nicht die soziale Marktwirtschaft, sondern ihre Akteure stehen heute vor Anpassungsproblemen. Diese Auffassung vertrat der stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende Thomas Kretschmer. Auch er forderte mehr eigenverantwortliches Handeln. Leitbild der Zukunft müsse das Individuum als "Unternehmer seiner eigenen Arbeitskraft und der eigenverantwortlichen sozialen Sicherung" sein, ohne zu amerikanischen Verhältnissen zu kommen. Für Bischof Joachim Wanke ist die Familienpolitik die Schlüsselfrage der Zukunftspolitik. Er mahnte an, hier strukturelle Defizite zu beheben
Das im Oktober veröffentlichte Memorandum wurde im Auftrag der Kommission VI für gesellschaftliche und soziale Fragender der Deutschen Bischofskonferenz von einer Expertengruppe erarbeitet
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 20.12.1998