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Aus der Region

Mühlbeck-Friedersdorf wird zur Welt der Bücher

Buchdorf

Buchhändlerin Heidi Dehne wurde neugierig. In der Zeitung las sie Ostern 1996 von Hay-on-Wye, einem kleinen Dorf in Wales, in dem vor fast 40 Jahren das erste Buchdorf der Welt entstand. Richard Boot, ein Oxford-Student, hatte damals einen kühnen Plan, Hay-on-Wye sollte zu einem Zentrum des antiquarischen Buchhandels werden. Wirtschaftlich und kommunal lag der Zweihundertseelenort - das einstige Zentrum des Rindertriebs - am Boden. Die Voraussetzungen für einen völligen Neubeginn waren gegeben. Das Antiquariat im leerstehenden Kino machte den Anfang

Hay-on-Wye wurde ein Erfolg! Waggonweise aufgekaufte Bücher aus Bibliotheken und Privatbestände ließen die Zahl der Läden auf 36 und den Ort zur "Town of Books" - zum "Buchdorf" wachsen. Spontan beschloß Heidi Dehne, sich selbst vor Ort ein Bild zu machen. Heute sagt sie: "Der Eindruck war einfach überwältigend." Bei der Rückkehr aus England besuchte sie auch das 1984 gegründete Buchdorf Redu in Belgien, ein ehemals kleines Dorf mit nur 400 Einwohnern. Dort wurde anfangs kurzerhand die Schule zum Buchladen umfunktioniert, weil viele Jungfamilien in die Ballungszentren abwanderten und im Ort nur noch zehn Kinder zu unterrichten waren. Diese, so meinte der Lehrer, bräuchten keine ganze Schule und so wurde fortan im Wohnzimmer des Lehrers Unterricht gegeben. Inzwischen ist Redu auch für junge Leute wieder attraktiv geworden und die Zahl der Kinder stieg auf 30 an - die Idee Buchdorf als Motor der kommunalen Entwicklung

Um diese Entstehungsgeschichten und Eindrücke bereichert, machte sich Heidi Dehne auf die Suche nach einem geeigneten Standort in Deutschland. Sie fand ihn in Mühlbeck-Friedersdorf. Zwei Orte - "mit dem Rücken aneinander gewachsen" - im ehemals großen Industriestandort Wolfen-Bitterfeld. Zugleich aber auch inmitten des Kulturkreises Leipzig, Halle, Köthen, Dessau-Wörlitz und Wittenberg gelegen. Außerdem gab es eine ähnliche Ausgangssituation wie im belgischen Redu: Die renovierte Grundschule in Mühlbeck wurde nicht mehr genutzt

Im Oktober 1997 war es soweit, das Projekt Buchdorf begann zu leben. Am Start waren sieben Läden mit 70 000 greifbaren Büchern, vier davon in der Schule. Gründer ist der Förderverein Buchdorf Mühlbeck-Friedersdorf e. V. Er kümmert sich hauptsächlich um die Öffentlichkeitsarbeit und die Beschaffung weiterer Immobilien. Die Buchhändler hingegen sind alle selbständige Kaufleute, oftmals Quereinsteiger, mit der nötigen Identifikation mit dem Thema und Erfahrungen im Verkauf. Die Vielfalt der Titel und Sachgebiete macht eine Spezialisierung der Läden notwendig, wie Heidi Dehne betont: "In Hay-on-Wye gibt es einen jungen Mann, der sich auf den Boxsport konzentriert und großen Zulauf hat". Mit der Spezialisierung bleibt der Überblick für den Kunden am besten erhalten. Und sollte ein Buch einmal nicht dasein, so besteht die Möglichkeit, den Wunsch im Buchdorf zu hinterlassen. Sobald es irgendwie greifbar ist, erhält der Besteller Nachricht

Vergleichbar mit Antiquariaten im herkömmlichen Sinne sind die Buchdörfler allerdings nicht, sagt Heidi Dehne. Angekauft werden ganze Bibliotheken, kleine Restauflagen oder auch Bücherschränke samt Inhalt. Außerdem wird kaum ein Buch aus dem Bestand aussortiert, weil es vielleicht zu "kitschig" ist. Dem Leser wird nichts vorenthalten. Man wolle sich nicht als Hüter von Moral und Bildung hinstellen, betonte die Buchhändlerin, jeder soll selbst entscheiden können. Wichtig ist ihr vielmehr, die Leute ans Lesen heranzubringen, die Schwellenangst vor Büchern zu nehmen. Und wer sich beim ersten Besuch noch für einen "seichten Unterhaltungstext" entscheidet, der traut sich irgendwann vielleicht auch an anspruchsvollere Texte heran

Bis zum jetzigen Zeitpunkt sind insgesamt zehn Läden entstanden. Eine der ansässigen Buchhändlerinnen ist Heike Littke aus Bad Schmiedeberg. Sie baute die heruntergekommene Schmiede zum Antiquariat und Galerie "Alte Schmiede" um. Ihre Spezialisierung reicht von Malerei, Keramik, Musik, Kunst bis hin zu Frauen- und Theaterliteratur. Vor ihrem Engagement im Buchdorf war sie als Bibliothekarin tätig. Wie viele andere geriet auch Heike Littke in die Arbeitslosigkeit und baute sich in Mühlbeck mit ihrem Laden eine neue Existenz auf. Allerdings - so räumt sie ein - ist das Angebot zur Zeit noch ein kleines bißchen DDR-lastig. "Doch mit der Zeit wird es sich mit älteren und neueren Büchern vermischen", ist sie sich sicher. Bleibt die Frage, kann ein Buchdorfladen seinen Betreiber ernähren? Heike Littke meint ja, zwar kommen jetzt im Winter weniger Leute, doch in den wärmeren Monaten kann sie sich nicht beklagen. An den Wochenenden sind es zirka 100 Besucher, in der Woche etwa 20 bis 30. Und die Tendenz ist steigend

Daneben sind Händler und Förderverein bestrebt, Mühlbeck auch als zentral liegende Erholungsmöglichkeit mit Übernachtung anzubieten. Zu vielen Sehenswürdigkeiten des mitteldeutschen Raumes ist es nicht weit, betont Heike Littke. In diese Konzeption reiht sich der renovierte "Gasthof zum Stern" in Friedersdorf ein. Neben Gaststätte und Zimmern beherbergt er auch den Laden Nr. 9. Er wurde Mitte Dezember eröffnet. Laden Nr. 10 - die neue "Station" von Heidi Dehne - zog in den ehemaligen Konsum und bekommt den lateinisierten Namen "con sum" - zu deutsch "ich bin dabei". Nebenan wird das "KaffeeSatz" eingerichtet, ein Antiquariat mit literarischem Kaffee. Bis zur Jahrtausendwende sollen noch zirka 15 Antiquariate hinzukommen. Gebäude wie das alte Pfarrhaus, der Laden des ehemaligen Kolonialwarenhändlers und Bäckers und ein Haus am Teich neben der Feuerwehr sind schon im Gespräch

Besonders froh ist Heidi Dehne über die gegenseitige Akzeptanz von traditioneller Dorfgemeinschaft und neu ansässigen Händlern. Ein Beispiel: Anfangs gab es eine Phase, in der das gastronomische Angebot noch nicht so gut war, die Buchdorf-Feste aber trotzdem nicht "auf dem Trockenen" stattfinden sollten. Aushilfe fand man mit fahrbaren Imbißwagen, nur eines fehlte, der Kuchen! Die Frauen des Sportvereins sprangen kurzentschlossen ein und füllten diese Lücke des Angebotes. Und das bis heute. Der selbstgebackene Kuchen der Sportfrauen hat bei den Festen Tradition

Übrigens, jeden Monat gibt es zu den "Schnapsdaten" ein besonderes Ereignis im kleinen malerischen und verträumten Mühlbeck. Am Neujahrstag findet der traditionelle "Geistige Frühschoppen" mit Nachwuchsautoren statt, am zweiten Februar ist Fasching und am dritten März wird ein Kirchenkonzert stattfinden. Mit Lesungen, Herbst- und Lampionfesten setzt sich die Veranstaltungsreihe "showFenster" fort. Vielleicht kann man irgendwann einmal ein größeres Literaturfest organisieren, ähnlich dem im walisischen Hay-on-Wye, ist Heidi Dehnes Traum

Luise Weiß und Holger Jakobi

Bei Interesse können Sie ein Prospekt anfordern. Kontaktadresse: Förderverein Buchdorf Mühlbeck-Friedersdorf e.V., Dorfplatz, 06774 Mühlbeck, Tel.: (03493) 4 30 43, Fax: (03493) 4 30 45

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 1 des 49. Jahrgangs (im Jahr 1999).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 10.01.1999

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