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Aus der Region

Prlat Grande ber die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit

Interview

Frage: Herr Prlat Grande, der evangelische Pfarrer Friedrich Schorlemmer hat Anfang des Jahres eine Amnestie fr DDR-Unrechtstter vorgeschlagen. Was halten Sie von solchen berlegungen?

Grande: Seit Januar 1992 ist das Stasiunterlagen-Gesetz in Kraft. Auf dieser Grundlage haben wir sieben Jahre Aufarbeitung hinter uns. Das ist Anla zu fragen: Haben wir erreicht, was wir wollten? Sind Korrekturen notwendig? Wie soll es weitergehen? Der Zeitpunkt der Diskussion ist richtig. Die Frage ist aber, ob eine Amnestie nicht den eingeschlagenen Weg - nmlich Wahrheitsfindung durch Akteneinsicht - in Frage stellt. Ich pldiere dafr, den bisherigen Weg auf der Grundlage des Stasiunterlagen-Gesetzes fortzusetzen. Wer seine Akte einsehen will, mu das auch weiterhin knnen. Der Begriff Amnestie ist nicht eindeutig. Jeder, der ihn gebraucht, mte zunchst sagen, was er damit meint. Meint Amnestie nur den Bereich, der gerichtlich verfolgt werden kann, dann ist das nur ein sehr kleiner Teil. Mit einer solchen Amnestie wrde man nur den SED-Funktionren und MfS-Offizieren einen Gefallen erweisen, an der gesamten Diskussion um die DDR-Vergangenheit aber wenig verndern. Andere Vorschlge, wonach auch alle Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) unter eine Amnestie fallen knnten, sind zu undifferenziert. Hier wrde neues Unrecht durch das Prinzip Zufall geschaffen: Diejenigen, deren IM-Ttigkeit schon enttarnt wurde, haben Pech gehabt, whrend diejenigen, die sich noch in der Warteschlange befinden, Glck haben

Frage: Sie haben mgliche Korrekturen angesprochen. Mu das Stasiunterlagen-Gesetz gendert werden?

Grande: Der Bundesbeauftragte Joachim Gauck hat das Ziel des Gesetzes einmal so formuliert: Nur wenn wir heute nach der Wahrheit suchen, knnen wir (morgen) den inneren Frieden wiederfinden. Dieses Ziel ist nicht erreicht. Die gesellschaftliche Befriedung ist nur wenig vorangekommen. Zwischen Opfern und Ttern gibt es kaum ein Gesprch. Wo es versucht wurde, ist es meist gescheitert. Das Gesprch aber ist der einzige Weg, um zu gesellschaftlichem Frieden zu finden. Deshalb sollten noch einmal alle Mglichkeiten geprft werden, um solche Gesprche zu intensivieren. Ich knnte mir beispielsweise vorstellen, da bei allen Auenstellen der Gauck-Behrde, wo Menschen ihre Akte einsehen, Beratungstellen eingerichtet werden. Hier sollten Opfer wie Tter Hilfe finden, das, was sie in der Akte gelesen haben, zu verarbeiten, Aggressionen und unntige Verdchtigungen abzubauen und die Bereitschaft zu entwickeln, mit diesem Stck Vergangenheit sinnvoll umzugehen. So, wie Akteneinsicht heute praktiziert wird, ist sie fr manchen nicht heilsam. An der Einrichtung solcher Beratungsstellen knnten sich auch die Kirchen durchaus beteiligen

Frage: Schorlemmer hat im Zusammenhang mit seinem Amnestie-Vorschlag gesagt, da gerade die gerichtliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit schuld am gesellschaftlichen Unfrieden sei. Hat der Rechtsstaat versagt?

Grande: Von Anfang an bestand ein groes Miverstndnis: Die Erwartungen in die gerichtliche Aufarbeitung waren viel zu gro. Das htten wir aber schon aus den Erfahrungen bei der Aufarbeitung der Nazi-Zeit lernen knnen: Fr das Nrnberger Gerichtsverfahren war eine eigene, auf dem Vlkerrecht basierende Gesetzgebung notwendig. Nur auf dieser Grundlage konnten die Todesurteile und hohen Haftstrafen verhngt werden. Fr alle anderen Flle reichten auch damals die Gesetze nur bedingt aus. Rechtsprechung nach rechtsstaatlichen Prinzipien wird in der /ffentlichkeit meist den Eindruck erwecken, da die Tter nicht so bestraft werden, wie sie es eigentlich verdienen. Da treten oft kleinere Delikte in den Vordergrund, die leichter bewiesen werden knnen als die eigentlichen Straftaten, oder die Strafen fallen verhltnismig gering aus. Das ist unbefriedigend - gerade aus der Sicht der Opfer. Aber wenn ich die Wahl habe zwischen einem rechtsstaatlichen Verfahren und einem gerichtlichen Verfahren, wie es in der DDR bei politischen Prozessen blich war, dann ist mir klar, da ich ersteres vorziehe

Frage: Sie beklagen, da ein Gesprch ber die DDR-Vergangenheit kaum in Gang gekommen ist. Befrworter einer Amnestie meinen, da die Debatte nach einem juristischen Schlustrich freier und offener werden knnte. Eine berechtigte Hoffnung?

Grande: Ein Krnchen Wahrheit steckt da drin. Wenn jemand umkehren und seine Schuld einsehen soll, dann braucht er eine gewisse Sicherheit, da er nicht vor verschlossenen Tren steht, im Gleichnis vom verlorenen Sohn steht der Vater schon auf den Sohn wartend vor der Tr. Unsere gesellschaftliche Situation ist aber anders: Die Tr ist zu. Damit das Gesprch berhaupt stattfinden kann, mte sich etwas ndern, ohne gleich sagen zu mssen, es ist alles vergessen. Das gilt vor allem fr die - mit aller Vorsicht gesagt - kleineren IM-Flle, fr die Menschen, die durch die Verfhrung der Stasi zu Handlungen veranlat wurden, die sonst berhaupt nicht zu ihrem Lebensprofil passen, und die sich deshalb selbst auch als Opfer des Systems betrachten

Frage: Neben der geringen Zahl von Gerichtsverfahren gibt es eine groe Zahl von berprfungen auf eventuelle Stasi-Vergangenheit im auergerichtlichen Bereich, etwa bei der Zulassung zum /ffentlichen Dienst. Sehen Sie hier notwendige Korrekturen?

Grande: Es steht die Frage, ob die Prinzipien, die bei diesen berprfungen angewendet werden, in einem Verhltnis zu denen in der Strafverfolgung stehen. Mit dem Stasiunterlagen-Gesetz sollte jede Art von Brgerjustiz verhindert werden. Jetzt mu man fragen, ob sich nicht in manchen Behrden bei der berprfung ein Vorgehen herausgebildet hat, das in keinem Verhltnis mehr zu den Strafrechtsverfahren steht. Auch die auergerichtlichen Verfahren sollten nach rechtsstaatlichen Kriterien ablaufen. Dazu gehrt unter anderem das Recht auf Rechtsbeistand, das Recht zu schweigen, um sich nicht selbst zu belasten, oder auch die Unschuldsvermutung bis zum Beweis der Schuld und so weiter. Solche Prinzipien scheinen mir mitunter aus mangelnder Kompetenz oder aus zu groem Eifer unbercksichtigt geblieben zu sein. Sicher kann gegen solche Entscheidungen vor Gericht geklagt werden, aber auch hier entstehen neue Ungerechtigkeiten zwischen denen, die das Geld und die Kraft haben, solche Verfahren spter gerichtlich berprfen zu lassen, und denen, die das nicht knnen und auf der Strecke bleiben

Frage: Sehen Sie weiteren Handlungsbedarf fr den Gesetzgeber?

Grande: Es sollte geprft werden, ob es nicht Gruppen gibt, die zwar nach der Definition des Stasiunterlagen-Gesetzes als IM bezeichnet werden knnen, aber trotzdem aus einer weiteren Verfolgung im Sinne von Aktenherausgabe und Aktenberprfung herausgenommen werden knnen. Bisher geschieht das - nach der Novellierung des Paragraphen 19 des Stasiunterlagen-Gesetzes - bei denen, die damals jnger als 18 Jahre waren, denen, die nur whrend ihrer Armeezeit als IM gefhrt wurden, oder denen, die nur vor 1975 als IM gefhrt wurden. Ich knnte mir - mit gewissen Eingrenzungen - vorstellen, da auch diejenigen herausgenommen werden, bei denen das MfS selbst den Kontakt wegen Dekonspiration oder "Unbrauchbarkeit" abgebrochen hat oder bei solchen IM, die abgeschpft wurden und selbst keinerlei eigene Aktivitten entfaltet haben

Weiterhin sollte der Gesetzgeber die Mglichkeit schaffen, da derjenige, der nachweisen kann, da die Stasi-Akte ihn zu Unrecht als IM belastet, eine Mglichkeit der Rehabilitierung erhlt. Ich erinnere an einen Fall in unserem Bistum: In einem Gerichtsverfahren ist geklrt worden, da der damalige Leipziger Propst Hanisch nur im Auftrag des Bischofs mit der Staatssicherheit verhandelt und seinen Auftrag nicht berschritten hat. Die Stasi aber hat ihn als IM registriert. Fr ihn gibt es bislang keine Mglichkeit zur Rehabilitation. Er darf auch weiter als IM bezeichnet werden. Das hngt mit der IM-Definition des Stasiunterlagen-Gesetztes zusammen. Diese ist sehr geprgt davon, wie die Stasi selbst den Begriff IM definierte. Auerdem knnte ich mir vorstellen, da die schon angesprochene Beratungsmglichkeit im Anschlu an die Akteneinsicht rechtlich verankert werden knnte

Frage: Sehr konkrete Vorschlge fr den Umgang mit Ttern. Was kann fr die Opfer getan werden?

Grande: Ich wage das kaum zu sagen: Nach einem Vortrag ber Stasibelastungen in der katholischen Kirche gab mir eine Frau ein Blatt mit einem Gedicht von Hilde Domin (siehe Kasten). "Abel steh auf" heit es. Hilde Domin hat dieses Gedicht auf dem Hintergrund der Vernichtung der Juden in der Nazi-Zeit geschrieben. Kain, der seinen Bruder Abel erschlagen hat, sagt auf die Frage Gottes nach seinem Bruder zuerst: Bin ich denn der Hter meines Bruders, was soviel heit wie: Ich habe keinen Bruder. In dem Gedicht aber heit es dann: Nur wenn Abel aufsteht und das erlsende Wort sagt, kann Kain sagen: Ja, du bist mein Bruder Abel. Eine hohe Erwartung an alle Opfer, da sie erkennen: Wir Opfer mssen die Vorleistung erbringen. Wir mssen sagen: Wir sind bereit, euch zu vergeben. Wenn das geschehen knnte, wrde eine gewaltige klimatische Vernderung in der Diskussion sprbar

Frage: Glauben Sie, da das geschehen kann?

Grande: Den meisten Opfern wrde ich das zutrauen. Schwieriger wird das Gesprch mit den vielen, die gar nicht so recht wissen, ob sie Tter oder Opfer waren. Es gab ja in der DDR eine Menge Zwnge des Mittuns, die nicht in die IM-Kategorie fallen. Ich erinnere etwa an die Befragung der Nachbarn durch den sogenannten Abschnittsbevollmchtigten der Volkspolizei, wenn jemand in den Westen fahren wollte oder bei anderen Anlssen. Was hat man da gesagt? Alle, die nur so "ein bichen" mit dem DDR-System verzahnt waren, fhlen sich heute gar nicht aufgefordert, ber eventuelle Mitschuld an dem System nachzudenken. Sie sind natrlich froh, da es IM als Prgelknaben gibt. Unsere Gesellschaft mu weg von der Engfhrung. Es wird zu viel von den IM geredet. Die Schuld von Stasi-Offizieren und Staatsfunktionren aber scheint vergessen. Sie sind wieder "hoffhig" geworden, sind Zeugen bei Gerichtsverfahren, geben Interviews, schreiben Bcher und sitzen im Parlament

Frage: Glauben Sie, da eine breite gesellschaftliche Debatte ber die DDR-Vergangenheit noch zustande kommt?

Grande: Ich kann nicht leugnen, da sich Frustration breit macht. Jeder hat seine Rolle gefunden: Die Tter tun so, als bruchten sie keine Vergebung. Die Opfer sind resigniert, weil ihnen keiner zuhrt. Ich hoffe aber, da die menschliche Natur noch so gesund ist, da sie sich schließlichdoch von diesen selbstgewhlten Fesseln befreien kann: Der Tter wird sich irgendwann mit seiner Schuld auseinandersetzen mssen. Er wird die Last sonst nie los. Der einzige Ausweg fr ihn ist, da jemand zu ihm sagt: Ich vergebe dir. Das Opfer, das sich jetzt in seine Rolle einspinnt und darunter leidet, ein Stck seines Lebens verloren zu haben, braucht genauso das gute Wort, um in seinem Leid einen Sinn zu erkennen. Auch Opfer brauchen den Dialog mit anderen ber die Vergangenheit. Vielleicht gibt es - etwa angestoen durch einen guten Roman oder Film - doch noch die notwendige tiefgreifende Debatte ber unsere Vergangenheit

Interview: Matthias Holluba

Aus einem Gedicht von Hilde Domin:

Abel steh auf
es mu neu gespielt werden
tglich mu es neu gespielt werden
tglich mu die Antwort noch vor uns sein
die Antwort mu ja sein knnen
wenn du nicht aufstehst Abel
wie soll die Antwort
die einzig wichtige Antwort
sich je verndern
wir knnen alle Kirchen schlieen
und alle Gesetzbcher abschaffen
in allen Sprachen der Erde
wenn du nur aufstehst
und es rckgngig machst
die erste falsche Antwort
auf die einzige Frage
auf die es ankommt
steh auf
damit Kain sagt
damit er es sagen kann
Ich bin dein Hter
Bruder.
Abel steh auf
damit es anders anfngt
zwischen uns allen.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 2 des 49. Jahrgangs (im Jahr 1999).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 17.01.1999

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