Abenteuerlust genügt nicht
Auslandsaufenthalt
Nach Südamerika zog die Sozialarbeiterin Angela Jarski bis vor kurzem eigentlich gar nichts, obwohl sie eine äußerst unternehmungslustige junge Frau ist. Daß sie sich seit einigen Wochen intensiv auf ein Jahr in Brasilien vorbereitet, hängt mit einer alten Sehnsucht zusammen. Schon solange sie denken kann, hält sie Ausschau nach einer geistlichen Lebensform in Gemeinschaft
Als sie 1997 mit anderen Jugendlichen ihrer Görziger Pfarrgemeinde zu einem Jugendtreffen der Franziskanerinnen im süddeutschen Sießen fuhr, hatte sie erstmals das Gefühl, am Ziel ihrer Suche angelangt zu sein. Ein Münchner Arztsohn erzählte dort, wie er in Brasilien von seiner Drogensucht losgekommen war: Er hatte ein Jahr in der Nähe von Saõ Paulo auf einer Fazenda da Esperança, einem "Hof der Hoffnung", gelebt. Dieses Jahr, das von intensivem christlichen Gemeinschaftsleben und harter körperlicher Arbeit geprägt war, hatte die Leere, die die Sucht in seinem Leben hinterlassen hatte, ausgefüllt worden
"Es hat mich tief beeindruckt zu erleben, daß im Christentum solch eine heilsame Kraft steckt, das hat wirklich gesessen", erinnert sich Angela Jarski. Kurze Zeit später besuchte ihr Gemeindepfarrer Jörg Bahrke gemeinsam mit den Berliner Priestern Georg Schlütter und Mathias Laminski die Fazendas da Esperança, die der Paderborner Franziskanerpater Hans Stapel vor rund 15 Jahren ins Leben gerufen hatte. "Ich habe wie ein Schwamm aufgesogen, was er nach seiner Rückkehr erzählt hat, ich konnte es fast auswendig nacherzählen", sagt die 25jährige
Mit Unterstützung der damaligen Bundesjugendministerin Claudia Nolte, die das Sozialwerk der Fazendas in Brasilien besucht hatte, begann im Februar vergangenen Jahres der Aufbau eines ähnlichen Projektes in der Nähe von Berlin. Angela Jarski war dabei, als Pater Hans Stapel mit einigen Franziskanerinnen aus Sießen, Mitgliedern der Fokolarbewegung und Berliner Jugendlichen, die auf der Straße leben, die ersten Ideen dafür spann. "Ich sehe Sie schon auf der Fazenda" sagte ihr eine Ordensschwester
Mittlerweile leben die ersten Rauschgiftsüchtigen in Riewend in einem Haus, das früher der katholischen Kirche gehörte: zwei Leipziger, vier Brasilianer und ein Italiener. Sie werden begleitet von einem deutsch-brasilianischen Team aus Franziskanern und Fokolaren. Ihre Arbeitseinsätze leisten sie auf dem 25 Kilometer entfernt liegenden sanierungsbedürftigen Gut Neuhof, das die Initiative geschenkt bekommen hat. Wenn die heruntergekommene Anlage fertig umgebaut ist, können auch Frauen Aufnahme finden. "Bis es soweit ist, könntest du doch eine Zeitlang auf einer brasilianischen Fazenda leben", schlug ihr ein Brasilianer vor
Nach zwei schlaflosen Nächten sagte sie zu, schlug ein attraktives Stellenangebot beim Caritasverband aus und begann bald darauf mit den Vorbereitungen für die Brasilienreise. Sie glaubt recht genau zu wissen, was sie erwartet, nicht zuletzt durch ihre jüngere Schwester Christina, die im Sommer drei Wochen lang die brasilianischen Fazendas besucht hat
Rund um Saõ Paulo gehören zwölf Projekte zu dem Sozialwerk, darunter Kindergärten und ein Haus für Aidskranke. Rund 500 Drogenabhängige, Alkoholiker, Strafgefangene, Prostituierte und Aidskranke leben derzeit für ein Jahr auf den Fazendas. Einige machen einen 14tägigen klinischen Entzug, dann beginnt das Leben in der Gruppe, ohne Drogen, Alkohol, Zigaretten und sexuelle Kontakte, ohne Nachtleben und Beschaffungskriminalität
Neben der Arbeit in der Landwirtschaft, einer Fleischerei oder einer Pizzafabrik ist der Tagesablauf von festen Gebetszeiten und Gesprächen über konkrete Alltagserfahrungen mit dem Evangelium bestimmt. Die Jugendlichen bleiben zunächst ein Vierteljahr lang ohne Kontakt zur Außenwelt, dann werden ihre Familien in den Wandlungsprozeß einbezogen, den sie durchlaufen. Nach einem Jahr beginnen sie entweder, sich eine neue Existenz aufzubauen oder sie wohnen weiter in der Fazenda und helfen bei der Begleitung der Neuankömmlinge
Auch wenn sich Angela Jarski sehr auf die Gemeinschaft, auf schöne Landschaften und aromatische Früchte in Brasilien freut, weiß sie auch, daß es nicht einfach sein wird, sich auf einen derart streng strukturierten Lebensrhythmus einzulassen. Sie wird es vermissen, spontan mit dem Auto durch die Gegend zu fahren und Freunde zu besuchen. Besonders schwer fällt es ihr, den Görziger Kirchenchor zurückzulassen, den sie die letzten drei Jahre hindurch mit aufgebaut und geleitet hat und mit dem sie eigentlich noch eine Menge Pläne hatte
Vor einigen Wochen haben die elf- bis 15jährigen Sänger in der Görziger Kirche ein Benefizkonzert zugunsten der brasilianischen Fazendas gegeben. Anschließend kam einer ihrer früheren Lehrer auf Angela Jarski zu, der vorher noch nie in der Kirche gewesen war. Ein älterer Herr, den sie nur vom Sehen kannte, rief sie an, machte ihr Mut für ihr Vorhaben und erzählte ihr aus seinem eigenen Leben. Sie hat den Eindruck, daß ihre Reise bereits Gutes bewirkt, bevor sie überhaupt losgeht
Die gelernte Kinderkrankenschwester Susann Stehr hat bereits zwei Auslandseinsätze hinter sich: 1995 war sie mit der Aktion "Hilfe für Kinder in Not" ein halbes Jahr lang in Rumänien, von Mai bis Dezember vergangenen Jahres hat sie mit der Organisation "Ärzte ohne Grenzen" im Südsudan gearbeitet. Sie trug mit ihrem Einsatz dazu bei, die Hungersnot zu lindern, die in Folge des immer wieder aufflammenden Bürgerkrieges im Sudan ausgebrochen war. Die 28jährige empfindet es keinesfalls als ungewöhnlich, eine Zeitlang im Ausland zu arbeiten. In ihrem Freundeskreis und in ihrer Pfarrgemeinde hatten schon einige vor ihr diesen Schritt gewagt
Bei den "Ärzten ohne Grenzen", die Mediziner und Techniker in 80 Länder der Welt entsenden, hatte die Zerbsterin vor allem die Aussicht gereizt, in einem internationalen Team zu arbeiten, mitten unter den Einheimischen zu leben und ihnen "Hilfe zur Selbsthilfe" zu geben. Durch einen dreimonatigen Tropenkurs in Liverpool und einen zweiwöchigen Einstiegskurs der Hilfsorganisation in Brüssel fühlte sie sich optimal auf die Arbeit in der Krisenregion vorbereitet. "Es war gut, daß ich mich auf einfachste Verhältnisse eingestellt hatte, vieles war dann gar nicht so kraß wie ich es erwartet hatte."
Als sie im südsudanesischen Ort Panthou eintraf, war die Versorgungslage jedoch katastrophal. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hatte Transportschwierigkeiten, die Lebensmittellieferungen reichten nicht. Susann Stehr arbeitete in einem stationären Ernährungszentrum für schwer unterernährte Kinder und in einer ambulanten Station, die Familien mit unterernährten Kindern unterstützte. Schweren Herzens mußte sie in den Anfangsmonaten viele hilfsbedürftige Menschen wegschicken. Die Grenzwerte für schwere Unterernährung waren wegen des akuten Mangels von 70 Prozent des Normalgewichts auf 60 Prozent heruntergesetzt worden
Viele Kinder waren so abgemagert, daß sie nicht wußte, wo sie ihre Spritzen ansetzen sollte. Die allermeisten haben dennoch überlebt. Susann Stehr war tief beeindruckt von der Zähigkeit und dem unbändigen Lebenswillen der sudanesischen Kinder. Trotz Krankheit und Auszehrung strahlten sie Freude aus, tanzten und lachten miteinander. Wenn doch einmal ein Kind im Sterben lag, brachten die Familien es meist an einen ruhigen Ort und verbrachten die letzten Tage und Stunden in seiner Nähe. Sie nahmen den nahenden Tod ohne innere Auflehnung hin und wehrten sich sogar dagegen, um jeden Preis alle Möglichkeiten der modernen Medizin auszuschöpfen, ganz anders als die meisten Europäer dies tun würden
Susann Stehr hat in den Monaten im Sudan vieles, was ihr bisher selbstverständlich erschien, ganz neu schätzen gelernt: Wasser, Elektrizität, Nahrung, Gesundheit. Sie hat neue Freunde gefunden und sie hat gesehen, daß ihre Arbeit Erfolg hatte, auch wenn sie noch nicht weiß, wie lange er anhalten wird. Ab September hat sich die Versorgungslage im Sudan gebessert, sowohl in Panthou war das spürbar als auch in ihrem zweiten Einsatzort Achongchong. In diesen Tagen läuft allerdings der Waffenstillstand aus, den die Bürgerkriegsparteien im Sommer ausgehandelt haben. Es ist zu befürchten, daß Kämpfe dann von neuem losgehen und wiederum viele Menschen fliehen müssen
In nächster Zeit wird die Zerbster Krankenschwester zwei Aktionstage der Organisation "Ärzte ohne Grenzen" in zwei Magdeburger Krankenhäusern mitgestalten. Ab Mitte Februar wird sie sich für einen weiteren Einsatz zur Verfügung stellen. Wohin der gehen wird, ist noch völlig offen
Dorothee Wanzek
Kontaktadressen:
Mathias Laminski, Georg Schlütter, Gut Neuhof-Fazenda da Esperança, Linder Weg 5, 14778 Riewend, Telefon: 033838/403-04, Fax: -19.
Ärzte ohne Grenzen e.V. Lievelingsweg 102, 53119 Bonn, Telefon 0228/55950-0.
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 24.01.1999