...am 31. Januar 1953
Damals
In einer Zeit großer ideologischer Beeinflussung wandte sich zu Beginn der fünfziger Jahre der Leipziger Oratorianer Theo Gunkel an die Leser des Tag des Herrn. Unter der Überschrift "Der Laie in der Kirche" gab er Ermutigungen, sich für die Kirche zu entscheiden
Die erste Frage: Was erwartest du eigentlich von der Kirche und Pfarrgemeinde? Manche erwarten offenbar überhaupt nicht viel, deshalb bedeutet ihnen auch die Zugehörigkeit zur Kirche und Gemeinde nichts. Sonst könnte es nicht vorkommen, daß jemand sein Gesuch um Nachlaß oder Ermäßigung der Kirchensteuer mit der Versicherung schließt: "Andernfalls bin ich gewillt, meinen Austritt aus der Kirche zu erklären." Ihm ist Kirche und Gemeinde offenbar nicht mehr, als ein Verein, dessen Beitrag lästig wird, zumal wenn man sich an den Vereinsveranstaltungen doch nicht recht beteiligt und "nichts davon hat". ... Ein anderes Mißverständnis konnte man früher oft antreffen: daß jemand von seiner Zugehörigkeit zur Kirche äußere Vorteile erhoffte: eine bessere Stellung oder besseres Vorwärtskommen, gute Beziehungen oder sonstige Unterstützung. Es war das alte Mißverständnis der Juden, die Jesus zum König machen wollten, weil Er sie mit Brot gesättigt hatte .... Dies Mißverständnis ist gegenwärtig kaum mehr möglich. Irdischen Vorteil wird heute von einer lebendigen Zugehörigkeit zur Kirche und Pfarrgemeinde kaum jemand erwarten können. Wir haben keinen Grund, das zu bedauern
Andere erwarten von der Kirche noch eine gewisse "religiöse Weihe" des Lebens, besonders bei Geburt, Hochzeit und Tod. Es ist hier sicher nicht nur das Bedürfnis nach einer feierlichen Form, das besonders bei solchen Anlässen die Menschen nach der Kirche ausschauen läßt oder an sie bindet. Es lebt doch noch eine Ahnung im Menschen, daß das Leben in tieferem Grunde wurzelt. Mag man es auch im Alltag vergessen oder betäuben: bei Geburt, Hochzeit und Tod ahnt der Mensch ein Geheimnis, das sein Denken und Wollen überragt, da fühlt er sich berührt von einer Macht, der sein Leben anheimgegeben ist; es spürt der Mensch, daß unter der Oberfläche seines Lebens eine unmeßbare Tiefe ist; und er ahnt, daß es nicht gut ist, alle Wurzeln loszulösen, die sein Leben mit dieser Tiefe verbinden.
Diese Ahnung und Erwartung ist richtig, aber sie ist noch viel zu klein. ... Viel Größeres solltest du erwarten. Nimm die leise Hoffnung auf Glück und Leben, die im Frühling in der Tiefe des Herzens erwacht; nimm das Verlangen nach Wahrheit, Liebe und Reinheit, das in deinen besten Stunden deine Seele hell macht; nimm die leise Unruhe auf dem Grund der Seele, die sich durch nichts beruhigen läßt, den Hunger und Durst, der durch nichts gestillt wird, nimm das Verlangen nach einem letzten lohnenden Ziel und einem unerschütterlichen Grund, die Sehnsucht nach Geborgenheit in einer unwandelbaren Liebe und nach einem tiefen, alles durchdringenden Frieden, nimm alle Sehnsucht, die dein Herz bewegte, als es noch jung war, und nimm die Erwartung, in der vielleicht die Augen deiner heranwachsenden Kinder noch dem Leben entgegenschauen - nimm all das zusammen, und dann komm mit dieser Erwartung zur Kirche! Dieser letzten und tiefsten, alles umfassenden Erwartung wird Erfüllung und Sättigung verheißen, in einer Weise, die doch noch alles Ahnen und Erwarten übersteigt. Die Kirche will das geben - nicht aus sich, sondern aus dem, was ihr selbst von oben geschenkt ist - , was keine Macht der Erde geben kann. Sie braucht deshalb auch keine Macht der Erde zu verdrängen, aber sie kann auch durch keine Macht der Erde ersetzt werden. Sie will dir das Größte und Letzte schenken, was ein Menschenherz erwarten kann und was Menschengedanken sich ausdenken können: Die Freundschaft und Liebe des lebendigen Gottes und die Teilnahme an der Fülle Seines ewigen Lebens. Sie bringt dir die Einladung zur Hochzeit des Königs. An deiner Antwort entscheidet sich, ob du der Einladung wert bist
Die zweite Frage: Was erwartet eigentlich die Kirche von dir? Sie erwartet von dir, daß du ein lebendiges Glied bist. Denn nicht der Papst oder der Bischof oder der Pfarrer ist die Kirche sondern alle Glieder bilden zusammen den Leib. Ein krankes Glied kann den ganzen Leib krank machen; ein abgestorbenes Glied belastet den ganzen Leib. Abgestorben bist du, wenn du nicht mehr glaubst und nicht mehr liebst. Die Kirche - und das ist für uns hier unsere Gemeinde - erwartet deinen Glauben und deine Liebe
Was die Kirche zu geben hat, wird ihr von oben geschenkt. Sie gibt es nur weiter. Aber es wird empfangen und weitergegeben durch Menschen, durch uns. Sendung und Aufgabe ist der Kirche von Gott gegeben, aber ob und wie sie diese Aufgabe und Sendung an einem bestimmten Ort, in einer bestimmten Zeit, erfüllt, das liegt wieder an den Menschen. Unsere Gemeinde trägt hier wesentliche Aufgaben der Kirche, und es liegt hier an mir und dir, ob und wie sie ihren Beruf erfüllt. So erwartet sie, daß du dich mitverantwortlich fühlst und sie in ihrer Aufgabe nicht im Stich läßt. Sie erwartet von dir, daß du ihr hilfst, hier Gott zu verherrlichen im gemeinsamen Gottesdienst und durch dein Leben unter den Menschen. Sie erwartet von dir deine Hilfe in der Aufgabe, ihre Glieder untereinander als Kinder Gottes in brüderlicher Gemeinschaft zu verbinden. "Einer trage des anderen Last" ist das Grundgesetz, das der Herr Seiner Gemeinde gegeben hat. Das kann nur erfüllt werden, wenn jeder an seiner Stelle mitträgt.
Ich las ein Wort des heiligen Bernhard: "Unruhig mußt du werden, wenn du an die Kirche denkst" - unruhig mußt du werden, weil Sendung und Aufgabe der Kirche so heilig und groß und die Menschen, aus denen sie gebaut ist, so fehlerhaft und klein sind. Unruhig mußt du werden, weil es auch an dir liegt, wie es hier um die Kirche steht. Beide Fragen möchte ich in dein Herz werfen. Was erwartest du von der Kirche? Vielleicht hast du zuwenig gesucht und erwartet - und deshalb auch zu wenig gefunden und zu wenig gegeben!
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 31.01.1999