Jetzt 4 Wochen kostenfrei Tag des Herrn lesen!
Aus der Region

Untersuchung über Christen in der Wendezeit startet

Erfurt

Erfurt (ep) - Fast zehn Jahre nach der Wende sind die Ereignisse vom Herbst 1989 / Frühjahr 1990 Geschichte. Die Details der friedlichen Revolution beginnen zu verblassen, noch ehe die vielschichtigen Faktoren und Aspekte, die damals eine Rolle gespielt haben, einigermaßen vollständig erfaßt und untersucht worden sind. Dies gilt um so mehr, wenn nach den damaligen Akteuren in den einzelnen Regionen und Orten, ihrem konkreten Engagement und nach den Voraussetzungen und Motiven ihres persönlichen Einsatzes gefragt wird. Das Philosophisch-Theologische Studium Erfurt plant nun in Zusammenarbeit mit dem Katholischen Forum in Thüringen eine systematische Untersuchung und Aufarbeitung der Aktivitäten katholischer Christen in der Wende 1989 / 90

Mit einer Tagung in der Erfurter Heimvolkshochschule St. Ursula am vergangenen Wochenende wurde dazu ein Auftakt gesetzt. Auf Einladung des Erfurter Philosophen Eberhard Tiefensee, des Kirchenhistorikers Josef Pilvousek, der auch das Seminar für Zeitgeschichte am Philosophisch-Theologischen Studium leitet, sowie von Hubertus Staudacher vom Katholischen Forum waren zehn katholische Zeitzeugen zusammengekommen, die in der Wendezeit auf verschiedene Weise an der Herbeiführung politischer Veränderungen beteiligt waren. Die Tagung sollte einen ersten Eindruck geben, wo und wie katholische Christen an den Ereignissen von 1989/90 beteiligt waren, "da es darüber bisher wenig Klarheit gebe". Die Auswahl der eingeladenen Zeitzeugen zu der ersten Tagung sei "sehr zufällig und ohne jede Wertung" geschehen, betonte Hubertus Staudacher. Zudem hätten mehrere der engagierten Zeitzeugen aus gesundheitlichen Gründen absagen müssen oder ständen einer solchen Arbeit "aufgrund von persönlichen Verletzungen aus der damaligen Zeit" bisher zurückhaltend gegenüber

"Wir wollen besonders die katholischen Akteure sammeln, die außerhalb des Schutzes der Pfarrhäuser agiert haben, und nach den Motiven ihres Engagements fragen", formulierte Hubertus Staudacher das Ziel der geplanten Untersuchung. Dabei könnte eine Art "Who is who?" der Katholiken der Wendezeit entstehen, hofft Professor Tiefensee. In einer solchen Veröffentlichung könnten Fragen beantwortet sein wie: "Wo waren Lernfelder, die den einzelnen zu seinem Engagement befähigt haben? Welche Rolle spielte der kirchliche Hintergrund? Welches waren die Motive und worin konkret bestand der Einsatz katholischer Christen in der Zeit zwischen 1988 (Kommunalwahlen ...) und 1990?" Zugleich sollten noch vorhandene Materialien für eine Dokumentation zusammengestellt werden

Professor Josef Pilvousek stellte den Teilnehmern Überlegungen des jüdischen Historikers Richard Löwenthal zum Begriff "Widerstand" vor. "Ich glaube nicht, daß es in der DDR eine wirkliche Opposition gegeben hat", so der Kirchenhistoriker, also Aktivitäten, die bewußt den Sturz der Parteidiktatur zum Ziel gehabt hätten. Widerstand habe es aber durch gesellschaftliche Verweigerung gegeben. "Hier war vor allem der Ort der Kirche", so Pilvousek. Zudem hätten Künstler und Schriftsteller in Form "weltanschaulicher Dissidenz" Widerstand geleistet

In kurzen Statements berichteten die eingeladenen Zeitzeugen davon, in welcher Weise sie in der Wendezeit aktiv waren, was sie dazu veranlaßte und in wiefern ihr kirchlicher Hintergrund für dieses Engagement eine Rolle spielte. Für Hans Donat und Josefa Kendzia, beide aus Erfurt, war das Katholikentreffen in Dresden 1987 ein wichtiger Einschnitt, sich stärker um (damals bescheidene) gesellschaftliche Veränderungen in der DDR zu mühen. Der Jesuit Lothar Kuczera aus Dresden berichtete, wie er durch seine nachbarschaftlichen Kontakte zum evangelischen Superintendenten Christof Ziemer sehr früh in Dresdner Ereignisse der Vorwendezeit einbezogen war. Dr. Stephan Dorschner aus Jena wurde unter anderem durch das Schicksal eines Arbeitskollegen, der im Zusammenhang mit der Aktion "Schwerter zu Pflugscharen" ein dreiviertel Jahr eingesperrt wurde, intensiv mit der DDR-Situation konfrontiert

Für Ines-Maria Köllner aus Leipzig sind wichtige Weichenstellungen für das Engagement in der Wende bereits in der katholischen Jugend und später in der Mitarbeit beim Aktionskreis Halle sowie in Leipziger Friedensarbeitskreisen und -netzwerken passiert. Erfahrungen aus der Zeit vor und in der Wende schilderten auch Regens Dr. Ulrich Werbs, damals Pfarrer in Rostock, Klaus Milde aus Dresden, Ruth Kölblin aus Jena, Pfarrer Martin Montag aus Zella-Mehlis und Wolfgang Thiemann aus Görlitz. So wie die Tagungsteilnehmer sollen möglichst viele der damals engagierten Katholiken zu Wort kommen. Eine Zusammenstellung ihrer Erfahrungen, so Professor Tiefensee, soll "nicht den Anteil schmälern, den politisch Engagierte aus dem Raum der evangelischen Kirchen geleistet haben", kann aber einen Ausgangspunkt schaffen, um "sachlicher" über Herkunft und Motivation damaliger Akteure zu sprechen. Um einen soliden Überblick zu erreichen, werde eine Aufarbeitung in regionalen Arbeitsgruppen angestrebt

Tiefensee, Pilvousek und Staudacher rufen alle in der Wende politisch engagierten Katholiken auf, sich mit Berichten, Anregungen und Materialien am Projekt "Katholische Christen in der Wende 89 / 90" zu beteiligen. Sie bitten darum, Informationen, Hinweise und Unterlagen an folgende Adresse zu senden: Philosophisch-Theologisches Studium Erfurt, Stichwort: Zeitgeschichte, Postfach 62, 99002 Erfurt, Tel. 03 61 / 59 07 70, Fax 03 61 / 5 90 77 20.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 6 des 49. Jahrgangs (im Jahr 1999).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 14.02.1999

Aktuelle Empfehlung

Der TAG DES HERRN als E-Paper - Jetzt entdecken!

Aktuelle Buchtipps