Gabriele Mertens war mit Justitia et Pax in Asien unterwegs
Philippinenreise
An Schlaf war trotz Ohrstöpseln nicht zu denken. In der Nachbarhütte, nur durch ein Wachstuch abgetrennt, quälte sich ein Tuberkulosekranker mit seinem Husten. Bei 35 Grad Hitze und 98 Prozent Luftfeuchtigkeit lag Gabriele Mertens auf einem Campingbett, das ihre Gastgeber eigens für sie ausgeborgt hatten. Mit zwei Erwachsenen und drei Kindern teilte sie in einem städtischen Slum auf den Philippinen viereinhalb Tage lang die 10-Quadratmeter-Hütte und die Mahlzeiten: dreimal täglich ein Schälchen Reis
Erst auf dem Flug nach Manila war der Auslandsbeauftragten des Magdeburger Caritasverbandes so richtig klargeworden, daß sie sich auf ein Abenteuer eingelassen hatte. Die Einladung der Deutschen Kommission Justitia et Pax, Mitte Januar mit einigen deutschen Weihbischöfen und Mitarbeitern kirchlicher Hilfsorganisationen an einer Expedition auf den Philippinen teilzunehmen, war kurzfristig auf ihren Schreibtisch geflattert. Aufgabe der Gruppe war es, nach christlichen Erfahrungen der "Einheit von Leben und Glauben" zu suchen in einer Region, die von Armut und ungerechten Strukturen geprägt ist
In dem Slumgebiet der Bischofsstadt Naga, eine Flugstunde von Manila entfernt, gibt es seit einigen Jahren eine christliche Basisgemeinschaft. Gabriele Mertens wurde dort bei einer Familie für einige Tage buchstäblich ausgesetzt, um ihr Leben hautnah kennenzulernen. Spanische Herz-Jesu-Schwestern haben Anfang der 80er Jahre begonnen, ein Familienzentrum für die Slumbewohner einzurichten. Sie begannen mit einer täglichen Kinderspeisung, wandten sich schließlich auch an die Mütter, denen sie Gesundheitserziehung und eine religiöse Grundbildung anboten. Gemeinsam mit den Frauen lasen sie in der Bibel und legten sie aus, später kamen auch Männer dazu. Es entstanden kleine Gruppen von fünf bis zehn Familien, die sich selbstorganisiert jede Woche trafen, die Bibel auslegten, gemeinsam beteten, häufig die heilige Messe mitfeierten und das religiöse Leben in ihren Familien pflegten. Diese Lebensform zog immer größere Kreise. Die Gruppen wuchsen und teilten sich wieder. Auch die Gastgeberfamilie von Frau Mertens machte vor fünf Jahren die Bekanntschaft mit den Ordensschwestern und war von ihrem Lebensstil angezogen. Die Eltern, die getauft waren, aber ohne Beziehung zur Kirche gelebt hatten, gehören mittlerweile zum Führungsteam der Gemeinde und halten selber Katechesen
Die engagierten Christen des Slums von Naga fühlen sich herausgefordert, zum Abbau des Elends und der sozialen Ungerechtigkeit beizutragen. Das Leben in ihrem Wohngebiet ist von Armut, Arbeitslosigkeit und Unsicherheit geprägt. Vor einigen Wochen hat ein Taifun die Hütten hüfthoch unter Wasser gesetzt. Es lohnt sich kaum, die Schäden zu reparieren; das nächste Unwetter kommt bestimmt. Gewalt, Alkoholismus und sexueller Mißbrauch stehen in vielen zerrütteten Familien auf der Tagesordnung. Unter anderem hat die christliche Gemeinschaft eine Kooperative gegründet, die Rucksäcke und Kosmetiktäschchen produziert. Vor kurzem hat die Stadtverwaltung das Land, auf dem ihre Hütten stehen, an eine chinesische Kaufhauskette verkauft. Mit Unterstützung der Schwestern hat die Basisgemeinschaft einen "Hausbesitzer-Verein" ins Leben gerufen, der gegen den Verkauf des Bodens klagt. Das Ersatzland, das die Stadt angeboten hat, ist ein sumpfiges ehemaliges Reisfeld. Den politischen Kampf führen die "Hausbesitzer" stets mit spiritueller Rückbindung. Sie beten immer wieder um die richtige Entscheidung für ihr weiteres Vorgehen. Ein tief empfundenes Gottvertrauen trägt sie über manche Schwierigkeit hinweg
Heikel ist ihre Lage, weil ihr Bischof auf Seiten des chinesischen Geschäftsführers steht. Er begrüßt es, wenn das wenig ästhetische Slumgebiet aus dem Innenstadtbild verschwindet. "Gott liebt unsere Menschen, weil sie so arm sind", hat die Besucherin aus Magdeburg mehrmals aus dem Munde des Bischofs gehört
In Naga hat sie die befreiende Kraft zu spüren bekommen, die im Evangelium steckt, aber auch die Gefahr, das Evangelium zur Legitimation herrschenden Unrechts zu mißbrauchen. Die anderen 26 Expeditionsteilnehmer, darunter auch der Schweriner Weihbischof Norbert Werbs, besuchten arme Familien oder Geistliche in ländlichen Regionen und machten dabei ganz andere Erfahrungen. Jeder von ihnen soll nach der Rückkehr die Lebensgeschichte eines armen Katholiken auf den Philippinen zu Papier bringen. Die Kommission Justitia et Pax verbindet als Reiseveranstalterin damit nicht nur die Absicht, christliche Erfahrungen aus Asien zu dokumentieren. Es geht nicht zuletzt darum, Entscheidungsträgern für kirchliche Auslandshilfe die Gelegenheit zu geben, ihr eigenes Leben zu reflektieren. "Was müssen wir lernen, wenn wir an unserem Reichtum nicht kaputtgehen wollen?" lautete zum Beispiel eine der Fragen, die bei einem dreitägigen Auswertungsseminar in Manila am Ende der Reise zur Sprache kamen
Gabriele Mertens findet es gerade für ostdeutsche Katholiken wichtig, den Blick für die Not in anderen Ländern nicht zu verlieren. Sie begrüßt es, daß Caritas- und Bistumsleitung in Magdeburg sich nicht im Lamentieren über eigene Probleme erschöpfen, sondern Kraft und Zeit in die Auslandshilfe investieren. Die Schwestern der christlichen Nächstenliebe, die auch in Magdeburg eine Niederlassung haben, knüpfen seit kurzem in Manila an die Tradition ihrer Gründerin Pauline von Mal../../inckrodt an und kümmern sich um Blinde. Sie schulen blinde Frauen und Männer, die in Manila oft betteln müssen, zu Masseuren um. Mit Unterstützung des Magdeburger Diözesan-Caritasverbandes soll ein eigenes Massage-Behandlungszentrum und eine Vermittlungsagentur mit Begleitdienst für blinde Masseure stehen. Derzeit müssen die Blinden einen erheblichen Teil ihres Honorars an vermittelnde Ärzte oder Agenturen abführen. Wenn sie in Familien ihren Dienst tun, werden sie häufig Opfer von Vergewaltigungen
Wer die Projekte der Magdeburger Caritas-Auslandshilfe unterstützen möchte, kann unter Telefon 0391 / 6053-237 nähere Informationen erhalten. Dort können sich auch Geschäftsleute melden, die bereit sind, in größerer Stückzahl Rucksäcke abzunehmen, die Slumbewohner genäht haben
Dorothee Wanzek
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 14.02.1999