Über den Umzug einer Lausitzer Dorfkirche
Buchtip
Eine Karteikarte mit zwölfstelliger Nummer und präziser Beschreibung, daneben das Foto einer Kiste mit einer sorgfältig verpackten Figur, deren Arm scheinbar hilflos nach oben weist. Das war der Taufengel aus der Kirche von Deutsch-Ossig, gekennzeichnet wie die Tausende anderer Einzelobjekte, die den Umzug mitmachen sollten
Heute breitet er wieder seine vergoldeten Flügel aus, beschwingt, als wäre er gerade ins Kirchenschiff geschwebt. Eine evangelische Dorfkirche ist umgezogen, versetzt worden, gerettet. Sie galt als eine der schönsten in der Oberlausitz. Heute steht sie im Plattenbauviertel von Görlitz-Königshufen. Am Pfingstfest 1998 wurde sie als Hoffnungskirche wieder eingeweiht
Deutsch-Ossig, südlich von Görlitz, war durch die Regierung der DDR 1986 zum Tod durch den Bagger verurteilt worden. 1988 wurde seine Dreifaltigkeitskirche entwidmet. Dann kam die Wende, aber keine Hoffnung für die Bewohner, sie wurden 1992/93 umgesiedelt und der Ort bis auf wenige Häuser abgebrochen. Zum Jahresende 1997 wurde der Tagebau Hagenwerder stillgelegt
Parallel zur Tragödie des Ortes lief eine zu DDR-Zeiten einmalige Rettungstat, initiiert vom damaligen Institut für Denkmalpflege Dresden und Vertretern der evangelischen Kirche. Seit 1988 hatten Mitarbeiter der Denkmalpflege alle Details der Kirche fotografiert, schriftlich und zeichnerisch dokumentiert und katalogisiert
Wenn schon Baugrund und Mauern nicht zu retten waren, sollte wenigstens der Innenraum der barocken Pracht bewahrt bleiben. Die Baugeschichte wurde erforscht, Methoden zur Umsetzung entwickelt, die Malerei an Decke und Wänden segmentweise abgelöst und konserviert, die beweglichen Teile wie oben beschrieben behandelt
Das heutige Landesamt für Denkmalpflege Sachsen hat im Dresdner Michel Sandstein Verlag seine Bemühungen in einem Bild-Text-Band dargestellt. Der betrachtende Leser bekommt eine Vorstellung dieser akribischen Arbeit und restauratorische Leistung und zudem einen Eindruck von diesem schönen, wertvollen Barockbau
Aber auch der tragische Heimat- und Identitätsverlust der Menschen von Deutsch-Ossig kommt zur Sprache und ins Bild wie auch die Vorbehalte der Neubaugemeinde, die die alte neue Kirche zunächst als Fremdkörper empfand. Darüber berichten die Pfarrer von Deutsch-Ossig und von Görlitz-Königshufen. Der ehemalige Bischof Dr. Joachim Rogge gibt Einblick in die Verhandlungen mit den staatlichen Stellen
Gerade die verschiedenen Perspektiven der Beiträge machen das Buch nicht nur für den kunstgeschichtlich Interessierten zu einer spannenden Lektüre. Vor allem rühren die Fotos von Matthias Lüttig an. Er hat das Sterben des Ortes begleitet und zeigt Bilder vom Abriß und Aufbau. Die "toten" Dinge sprechen bei ihm eine eigene, eindringliche Sprache
Ursula Wicklein
"Von Deutsch-Ossig nach Görlitz-Königshufen" - Die Rettung einer Dorfkirche, Michel Sandstein Verlagsgesellschaft mbH, Herausgeber: Landesamt für Denkmalpflege Sachsen, Mit Beiträgen von U. Frenschkowski, B. Garte, G. Glaser, R. Harmel, H. Hodick, D. Liebig, H. Magirius, H. Ritschel, J. Rogge, G. Scheuerlein und K. Wollenweber 104 Seiten, 49,80 DM, ISBN: 3-930382-21-0.
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 21.02.1999