Noch immer Unterschiede zwischen Ost und West
Duderstädter Gespräche
Duderstadt - Am 9. November 1999 werden zehn Jahre vergangen sein, seitdem die Mauer zwischen Ost und West geöffnet wurde. Wie sieht die Bilanz nach einem Jahrzehnt aus? Ist das zusammengewachsen, was zusammengehört? Um diese Fragen ging es kürzlich bei den zehnten Duderstädter Gesprächen des Kolpingwerkes Diözesanverband Hildesheim, die sich traditionell mit Themen rund um die deutsche Einheit beschäftigen. Schon das Thema der Veranstaltung machte deutlich, daß noch manches im argen liegt: "Ost-West-Differenzen und das republikanische Defizit der deutschen Einheit - Vater Staat und seine ungleichen Töchter" lautete das Motto der Veranstaltung in der Kolping-Familienferienstätte Duderstadt
Die Analyse, die Dr. Thomas Koch vom Brandenburg-Berliner Institut für sozialwissenschaftliche Fragen zu Beginn vortrug, zeichnete Unterschiede zwischen Ost und West in zahlreichen Lebensbereichen nach: Westdeutsche, deren Aufbauleistung für die neuen Bundesländer unverzichtbar war, sitzen noch heute an wichtigen Schaltstellen in der öffentlichen Verwaltung. Koch: "Die Karrierechancen für die Einheimischen sind begrenzt". Als nach der Wende die volkseigenen Betriebe verkauft wurden, gingen sechs Prozent an ostdeutsche Käufer. Mehr als 75 Prozent wurde von Westdeutschen aufgekauft, ein kleiner Teil der Firmen ging in ausländischen Besitz. Kapitaleigner, Banken, Vermieter, Einzelhandelsketten - überall, so Koch, haben die Westdeutschen die Nase vorn. Vieles sei erreicht worden, doch eine selbsttragende Wirtschaftsentwicklung gebe es im Osten nicht. Das alles hat Folgen für das Bewußtsein der Ostdeutschen: Die Zahl derjenigen, die Gleichheit für wichtiger als Freiheit halten, wächst. 80 Prozent der Ostdeutschen sind davon überzeugt, daß es keine Chancengleichheit gibt. Unterschiede auch beim Leseverhalten: Die "Qualitätspresse" hat im Osten wenig Chancen, dafür setzt man mehr auf "Buntes". Kochs Forderung: Der Einfluß der Westdeutschen in den neuen Ländern muß zurückgedrängt werden
Ernüchternde Fakten. Doch, so meint Dr. Christoph Bergner, Vorsitzender der CDU-Fraktion im Landtag von Sachsen-Anhalt, es komme auf die Perspektive an. Die Ursachen für die zweifellos vorhandenen Unterschiede lägen in 40 Jahren Sozialismus und SED-Herrschaft, nicht etwa in einem Überfall der Westdeutschen auf die ehemalige DDR. In den neuen Ländern habe es das "größte staatliche Aufbauprogramm der Weltgeschichte" gegeben. Bergner: "Die Solidargemeinschaft funktioniert." Defizite gebe es aber noch bei der Wertegemeinschaft zwischen Ost und West, so beispielsweise bei der Akzeptanz des Rechtssystems. Viele ehemaligen DDR-Bürger hätten zu hohe Erwartungen an Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirktschaft gehabt. "In einer säkularen Gesellschaft säkularisieren sich die Heilserwartungen", sagte der ehemalige Ministerpräsident. Neben der bestehenden äußeren Einheit gelte es, die innere Einheit zu verwirklichen
Verschiedenheit gibt es auch im kirchlichen Bereich. Darüber wußte der Bischof von Erfurt, Dr. Joachim Wanke zu berichten. Ob es um schulischen Religionsunterricht, Militärseelsorge, katholische Verbände, die Präsenz der Kirche in den Medien oder kirchenferne Bildungsarbeit geht - viele Ostdeutsche beurteilen diese Probleme anders als ihre Schwestern und Brüder im Westen. "Doch es gibt eine wachsenende Bereitschaft, im kirchlichen Bereich aufeinander zu hören", erklärte Wanke. Einige Erfahrungen der Kirche im Osten könnten bald auch für die Kirche in Westdeutschland von Bedeutung sein, so zum Beispiel das Bewußtsein, daß das eigene Handeln nicht von der Mehrheitsüberzeugung getragen wird. Joachim Wanke weiter: "Die Kirchen haben einen wichtigen Beitrag für die innerdeutsche Verständigung geleistet, und sie leisten ihn noch." Dankbar sei er für die seit vielen Jahrzehnten geübte innerkirchliche Solidarität, so der Erfurter Bischof
Matthias Bode / tdh
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 28.02.1999