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Bistum Magdeburg

Seminar "Mauer in den Köpfen" mit Erzieherinnen aus West und Ost

Katholische Erwachsenenbildung

Magdeburg / Leipzig (dw) - "Oft redet man darüber, als wäre alles schon gelaufen. Mir ist klargeworden, daß wir noch viel zu wenig darüber nachgedacht haben, was wir in die deutsche Einheit einbringen können", sagt die Leipzigerin Regina Zschornack. Die Erzieherin der katholischen Kindertagesstätte St. Theresia gehört zu den Teilnehmerinnen des dreiteiligen Seminars "Mauer in den Köpfen"

Die Katholische Erwachsenenbildung im Land Sachsen-Anhalt und das Bildungswerk der Erzdiözese Köln haben jeweils zehn Erzieherinnen aus Ost- und Westdeutschland eingeladen, sich über ihre Biographien und ihre Zukunftsperspektiven auszutauschen. Nach den ersten Seminareinheiten in Bergisch Gladbach und Magdeburg wird der letzte Teil dieses Begegnungs- und Bildungsseminars vom 3. bis 6. März in Berlin stattfinden. Erzieherinnen seien als Berufsgruppe ausgewählt worden, weil gesellschaftliche und geschichtliche Entwicklungen in ihrem Alltag besonders deutlich zutage treten, erläutert Seminarleiter Ludger Pesch.

Regina Zschornack empfand die erneute Auseinandersetzung mit den eigenen Erlebnissen rund um die Wende als "sehr bewegend". Die Leipzigerin hatte zu DDR-Zeiten oft "die Westfrauen" bewundert und sie fast ein wenig um ihre geradezu unbegrenzten Möglichkeiten beneidet. Im Laufe der Jahre wurde ihr bewußt, daß sie vieles aus der Entfernung falsch gesehen hat. Zum Beispiel hat sie erkannt, welche Gefahren das Überangebot an Spielwaren und kreativen Gestaltungsmöglichkeiten für Kindergartenkinder heute birgt. Sie hat gemerkt, daß Beschränkung notwendig ist, damit Kinder sich wirklich kreativ entfalten können. Heute versucht sie Positives und Negatives aus Ost und West einer ehrlichen Prüfung zu unterziehen. Zum Beispiel ist sie dabei zum Schluß gekommen, daß Ostdeutsche ihre Erfahrungen mit Solidarität in das vereinte Deutschland einbringen können, auch wenn diese Erfahrungen oft nicht ganz freiwillig gemacht worden sind.

Während des Seminars ist ihr aufgegangen, daß sie in der DDR wie auf einer Insel gelebt hat. Viele Ost-Erzieherinnen konnten kaum glauben, daß sie keine Pionierin gewesen war und auch keine Jugendweihe hatte. In ihrem kirchlichen Kindergarten genoß sie eine größere Freiheit als die meisten ihrer Seminarkolleginnen, die in staatlichen Einrichtungen gearbeitet haben. "Unsere Ziele und Werte sind nicht weggebrochen", sagt sie. Durch ihre christlichen Wurzeln sei die Wende auch ein längst nicht so gravierender Einbruch gewesen

Elke Niebuhr, seit zweieinhalb Jahren Leiterin des Kindergartens "Gestiefelter Kater" in Halle-Neustadt, wollte die Maueröffnung zunächst gar nicht wahrhaben. "Mir ging es doch hier gut!" sagt sie. Zu DDR-Zeiten leitete sie einen kleinen Kindergarten in Halle-Dölau. Weil die Einrichtung abgelegen am Waldrand stand, gab es staatliche Kontrollen nur relativ selten; der Maiumzug des Kindergartens führte durch den Wald. "Das war nicht so wild." Da Elke Niebuhrs Mann aus Hamburg stammt, hatte sie ständig Kontakte zu Westverwandten gehabt. Den Wunsch, mit ihnen zu tauschen, hatte sie nie verspürt

Die aktuelle Situation erlebt sie mit sehr gemischten Gefühlen. "Wer mit Fleisch und Blut Erzieherin ist, für den ist es eigentlich eine gute Zeit, der kann sich auch einbringen", sagt sie. Als Kindergartenleiterin glaubt sie, nur begrenzten Einfluß zu haben auf den Weg, den ihre Einrichtung geht. Mitbestimmung sei nicht wirklich gewollt und nur in kleinen Schritten möglich. Bedrückend findet sie die Ängste um den Arbeitsplatz, von denen viele Mitarbeiterinnen zermürbt werden. "Vertrauen, das in langen Jahren aufgebaut wurde, geht jetzt verloren. Bis gestern hat man zusammen Kaffee getrunken, heute kennt man sich nicht mehr, weil man um dieselbe Stelle konkurriert.

In den letzten Jahren ist in Halle-Neustadt ein völlig neues Aufgabenfeld auf die Kindergartenleiterin zugekommen. Sie muß zunehmend Sozialarbeit leisten für die Eltern ihrer Kindergartenkinder, die das eigene Leben nicht mehr in den Griff bekommen. Dabei leidet sie darunter, nur begrenzt helfen zu können

"Ich finde das heutige Leben ungerecht, auch die Staatsform. Ich mag nicht darüber nachdenken, denn dann spüre ich nur umso stärker, daß ich gegen die Ungerechtigkeit nichts machen kann." Sie versucht, das beste aus ihrem Leben zu machen, indem sie sich auf ihre Arbeit konzentriert und sie so gut wie möglich zu machen versucht

Das Mauer-in-den-Köpfen-Seminar, zu dem sie von ihrem Arbeitgeber geschickt wurde, hat sie anfangs beinahe als "Folter" empfunden. Sie hat sich dagegen gesträubt, sich selbst zu offenbaren und zu hinterfragen. "Den Westfrauen fiel das leichter", hat sie beobachtet. Sie seien offener und spontaner gewesen, immer freundlich, nie nachtragend. Manchmal habe sie sich allerdings gefragt: Kommt das wirklich von innen heraus?

Vorurteile gegen Westdeutsche hat sie eigentlich keine, sagt sie. In wachsendem Maße ist sie aber davon überzeugt, daß die unterschiedliche Lebenserfahrungen doch verschiedene Menschen hervorgebracht haben. Wenngleich jeder seine ganz persönliche Lebensgeschichte habe, gebe es doch Entwicklungen, die "typisch Ossi" oder "typisch Wessi" seien: die geradlinigen Lebenswege der ostdeutschen Erzieherinnen nennt sie als Beispiel, die im Unterschied zu den westdeutschen in der Regel nie ihren Beruf gewechselt und auch keine Erziehungspause gemacht haben. Heute hätten sie zumeist große Scheu, für ihren Beruf einen Ortswechsel vorzunehmen

In einem Erzieherinnenseminar sei es vergleichsweise einfach, sich näher zu kommen und die "Mauer in den Köpfen" beiseite zu räumen, denkt sie: "Wir alle sind Frauen, haben einen Beruf, bei dem Gefühle im Mittelpunkt stehen und ein gemeinsames Ziel: die Suche nach dem besten Weg für jedes Kind."

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 8 des 49. Jahrgangs (im Jahr 1999).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 28.02.1999

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