Caritas und Diakonie stellen Zahlen und Fakten vor
Lebenslagenbericht Ostdeutschland
Caritas und Diakonie haben im Mai 1996 gemeinsam eine Untersuchung zur Lebenslage der Hilfesuchenden in ihren Beratungs- und Hilfseinrichtungen in den neuen Ländern durchgeführt. "Wir wollten gemeinsam genauere Informationen über die soziale Lage und die Probleme ,unserer' Klientinnen und Klienten im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Wandel nach der deutschen Einheit erfahren", heißt es im Vorwort der jetzt als Buch erschienenen Untersuchung. Hauptsächlich wurden dabei Betroffene selbst befragt. Der Bericht beschreibe die Lebenssituation von 24 000 Menschen in den neuen Ländern und ihrer Familienangehörigen. Der Tag des Herrn veröffentlicht einige ausgewählte Ergebnisse:
° Verdeckte Armut: Von verdeckter Armut betroffen ist, wer Anspruch auf Sozialhilfe hätte, diesen aber - aus welchen Gründen auch immer - nicht geltend macht. Das Ausmaß der verdeckten Armut ist in den neuen Ländern hoch: Etwa jeder fünfte Klient von Caritas und Diakonie ist verdeckt arm. Konkret heißt das, in den neuen Ländern kommen auf zehn Bezieher von Sozialhilfe fast 17 Personen, die Anspruch auf Sozialhilfe hätten, diese aber nicht beziehen und so praktisch unter dem gesetzlich fixierten Existenzminimum leben. Als Gründe, daß jemand keine Sozialhilfe in Anspruch nimmt, werden genannt: Fehleinschätzung der Höhe des eigenen Einkommens im Vergleich zur Sozialhilfeschwelle (zwei Drittel der Befragten), Unkenntnis über andere gesetzliche Regelungen und Scham
° Arbeitslosigkeit: Jeder dritte Hilfesuchende ist arbeitslos, dabei sind es über 40 Prozent bereits zwei Jahre und länger. Ein großer Teil der Arbeitslosen würde aber erhebliche Nachteile in Kauf nehmen, um einen Arbeitsplatz zu erhalten: Fast 80 Prozent würden berufsfremd tätig sein, jeder Dritte eine Tätigkeit annehmen, die unter seiner jetzigen Qualifikation liegt, knapp die Hälfte würde für weniger Geld arbeiten. Ein großer Teil würde einen Ortswechsel akzeptieren. Deutlich macht die Untersuchung, daß diese Bereitschaft nach einem Jahr Arbeitslosigkeit zunimmt, sich nach zwei Jahren aber merklich vermindert. Offensichtlich tritt hier Entmutigung und Resignation ein. Während in den ersten beiden Jahren nur rund fünf Prozent resigniert und enttäuscht die Arbeitsplatzsuche aufgegeben haben, wächst diese Zahl dann auf 15 Prozent an
° Vermögen und Verschuldung: Etwa die Hälfte der Hilfesuchenden verfügt über kein Vermögen. Über 40 Prozent der Haushalte sind verschuldet. Ein Drittel der Verschuldeten hat dabei die Verbindlichkeiten in Höhe von über 10 000 Mark
° Persönliche Lebensperspektiven: Etwa ein Drittel der Befragten betrachtet seine persönlichen Ziele und Perspektiven im Blick auf die Vereinigung als überhaupt nicht erfüllt, etwa die Hälfte als nicht ganz erfüllt. Dem entspricht die Bewertung der persönlichen wirtschaftlichen Situation: Die Hälfte betrachtet sie als etwas oder viel schlechter als vor 1990. Ein wichtiges Merkmal der Beurteilung der Lebensqualität ist der Urlaub: Zwei Drittel der Befragten haben noch keine Reise (länger als drei Tage) in die alten Bundesländer unternommen; drei Viertel waren noch nicht im Ausland; innerhalb der neuen Länder sind 70 Prozent noch nie drei Tage und länger unterwegs gewesen. Während nur etwa 40 Prozent der Hilfesuchenden sich zufrieden mit ihrem Leben zeigten, ist jeder Dritte mit seinem Leben eher unzufrieden
° Umgang mit Ämtern und Behörden: Zwei Drittel der Hilfesuchenden fühlen sich gegenüber Ämtern und Behörden machtlos, jeder Zweite empfindet Sturheit und mangelnde Hilfsbereitschaft bei den Behördenmitarbeitern. Drei Viertel bestreiten, daß die Ämter gut über persönliche Rechte und Pflichten informieren, geben aber auch an, schon einmal Hilfe erfahren zu haben. Über die Hälfte der Klienten durchschaut seine Rechte und Pflichten noch nicht
° Sonstiges: Von den Ratsuchenden wurden nur zwei Prozent durch Pfarrer und Kirchgemeinden und weitere 1,6 Prozent durch ehrenamtliche Mitarbeiter der kirchlichen Verbände auf die Dienste von Caritas und Diakonie verwiesen. Fast jeder zweite Hilfesuchende gab an, nicht kirchlich gebunden zu sein. Über 70 Prozent der Befragten erwarten bei den kirchlichen Hilfsangeboten gute fachliche Hilfe und bekunden ihr ausdrückliches Vertrauen zu den Mitarbeitern
(Quelle: Werner Hübinger / Udo Neumann: Menschen im Schatten. Lebenslagen in den neuen Bundesländern, Lambertus-Verlag, Freiburg i. Br., ISBN 3-7841-1121-1)
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 07.03.1999