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Aus der Region

Caritaspräsident Puschmann zur Lebenslagenuntersuchung

Interview

Der Deutsche Caritasverband und das Diakonische Werk haben vor wenigen Tagen unter dem Titel "Menschen im Schatten" ihren endgültigen Lebenslagenbericht für die neuen Bundesländer vorgelegt. Der Präsident des Caritasverbandes, Hellmut Puschmann, dazu im Interview:

Herr Präsident Puschmann, knapp zehn Jahre nach der Wende: Geht es den Menschen im Osten besser oder schlechter als zu DDR-Zeiten?
Vielen Menschen geht es besser, das belegen andere Umfragen. Wessen Situation vergleichen Sie? Die des Parteisekretärs, der früher eine hohe Position hatte und jetzt verbittert ist? Betrachten Sie den Ausreisekandidaten, der deswegen damals seine Arbeit verlor und jetzt Freiheit erlebt? Unsere Lebenslagenuntersuchung beruht auf der Befragung der Menschen, die bei uns Hilfe erbitten. Von diesen sagen freilich 85 Prozent, daß es ihnen schlechter geht. Daher haben wir die Untersuchung auch überschrieben: "Menschen im Schatten". Übrigens zeigten sich dabei die Frauen über 60 Jahren mit über einem Drittel am zufriedensten.
Was sind für Sie die schwerwiegendsten Erkenntnisse aus der Untersuchung?
Das ungeheure Maß des Arbeitsplatzabbaus verändert den einzelnen Menschen. Nach etwa einem Jahr geht viel von seiner Hoffnung und Spannkraft verloren. Danach braucht er mehr als nur einen neuen Arbeitsplatz, nämlich auch Hilfe, um wieder seine alte Stärke zu erreichen. 85 Prozent der Arbeitslosen, die zu uns kamen, waren länger als ein Jahr ohne Arbeit. Deutlich wurde die finanzielle Situation: Von den mehr als 3000 Befragten bezieht fast die Hälfte Sozialhilfe, vor allem junge Frauen und Familien mit mehreren Kindern, und zwar oft sehr lange: ein Drittel der Befragten zwischen zwei und dreieinhalb Jahren. Unsere Klienten haben oft schlechten Wohnraum. Andere hätten ein Recht auf Sozialhilfe, verzichten aber aus verschiedenen Gründen darauf: Auf zehn Sozialhilfeempfänger kommen nochmals 17 verdeckte Arme, die keine Sozialhilfe beantragen, obwohl sie es könnten.
Bereits vor zwei Jahren haben Sie erste Ergebnisse vorgestellt. Hat sich inzwischen gezeigt, ob die Politiker ihre Verantwortung für die "Menschen im Schatten" wahrnehmen? Welche konkreten politischen Forderungen haben Sie?
Die Politiker haben auf unsere Untersuchung unterschiedlich reagiert. Insgesamt hat der Diskussionsprozeß jedoch schon heute zu Verbesserungen bei manchen Behörden geführt. Sie fragen nach konkreten politischen Forderungen: Wir brauchen die Konsolidierung der sozialen Sicherungssysteme und keine Entsolidarisierung der Gesellschaft durch den Abbau derselben. Alle Menschen müssen soviel bekommen, daß sie am Leben der Gesellschaft teilhaben können. Die unselige Mißbrauchsdiskussion beruht auf Vorurteilen, die von Einzelfällen abgeleitet werden. Die Massenarbeitslosigkeit muß energisch bekämpft werden. Sie ist das eigentliche Übel. Deshalb fordern wir hierfür den größten Einsatz. Da die Überschuldung wie eine Falle wirkt, muß das neue Verbraucherinsolvenzgesetz endlich umgesetzt werden. Wir fordern die Intensivierung der sozialen Wohnungspolitik, die Stärkung der Prävention und nicht den finanziellen Abbau derselben mit den fatalen Folgen für den sozialen Frieden. Wir wollen aber auch, daß die Politik den Mut hat, über Armut und Reichtum in unserer Gesellschaft regelmäßig zu berichten.
Welche Erfahrungen haben Sie in der Zusammenarbeit auf sozialem Gebiet mit der neuen Bundesregierung gemacht?
Die Kontakte mit den einzelnen Ministerien stehen noch am Anfang. Die Familienministerin und ihr Staatssekretär haben aktive Schritte auf die Wohlfahrtsverbände zu unternommen, die sich in der Zusammenarbeit in konkreten Vorhaben auswirken. Bei anderen Ministerien stehen erste Gesprächstermine an. Ich habe den Eindruck, daß die Fülle dessen, was man sich vorgenommen hat, die Frage nach den Grundlagen und Werten, die gefördert werden sollen, verdrängt, beziehungsweise daß man die Chance der Auseinandersetzung über diese Grundwerte zu wenig sieht.
Wenn Menschen im Schatten leben, ist das ja auch eine Anfrage an die ganze Gesellschaft. Was kann jeder einzelne, was können gesellschaftliche Gruppen tun, um dieses Problem in Angriff zu nehmen?
Die Untersuchung macht deutlich, daß viele Menschen bereit sind, sich zu engagieren in Selbsthilfegruppen oder anderen Formen freiwilliger Tätigkeit. Dazu sollte jeder ermutigt werden. Die Gemeinden nehmen ihre "Menschen im Schatten" viel zu wenig wahr. Hier versagen sie und müssen aufmerksamer und sensibler werden. Nicht einmal fünf Prozent der Befragten haben die Gemeinden hilfreich und vermittelnd zur Caritas hin erlebt. Caritas und Diakonie sowie die Gemeinden müssen ihre Arbeit vielmehr miteinander vernetzen und die aktivierenden Aspekte betonen.
Die Caritasarbeit im Osten ist in den Jahren seit 1989 wesentlich breiter geworden als zu DDR-Zeiten. Bestätigt die Untersuchung die Richtung der Entwicklung? Oder sind Fehler deutlich geworden und eventuelle Korrekturen nötig?
Wir sind zu Recht als Caritas vorsichtig gewesen und haben den Aufbau neuer Strukturen und die Übernahme neuer Dienste finanziell einigermaßen beherrschbar betrieben. Wir müssen jedoch noch mehr basisnähere und die Eigeninitiative fördernde Versuche starten. Wir sind zu stark auf das institutionalisierte Modell von Caritasorganisationen fixiert und sollten am Rande derselben durchaus andere Formen ausprobieren, wo es geht. Ebenso sind neue Kooperationsformen mit der Wirtschaft, mit verschiedenen gesellschaftlichen Kräften notwendig, um flexibler helfen zu können. Generelle Fehler sehe ich jedoch nicht. Wir haben früher aus Kosten- und Personalgründen das Prinzip der Allgemeinen Sozialberatung gehabt. Dieses hat sich bewährt und wurde als Grundlage vor aller Spezialisierung zu recht beibehalten.
Die Lebenslagenuntersuchung Ost ist auch eine Anfrage an die Kirche selbst. Was kann die Kirche und was können die einzelnen Pfarrgemeinden tun, um Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben, zu helfen?
Erhebliche Anteile der Kirchensteuer gehen in die Caritas. Wir sind dafür sehr dankbar. Wir brauchen trotz aller Sorge in den Ordinariaten um die Höhe der Kirchensteuereinnahmen weiter diese Verläßlichkeit, weil gerade davon neue Dienste, Beratungsangebote, Initiativen und persönliche Hilfen finanziert werden. Die Option für die Armen ist der Kirche aufgetragen. In den Gemeinden muß die Wahrnehmungsfähigkeit für die Armen größer werden. Dies ist eine Anfrage an die Verknüpfung pastoraler und karitativer Aktivitäten und an die Bereitschaft, über die Gemeinden hinauszuschauen. Wir Christen sollten Sauerteig sein. So müssen wir überall, wo wir wirken, über uns selbst hinaus wirksam werden.

Interview: Matthias Holluba

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 9 des 49. Jahrgangs (im Jahr 1999).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 07.03.1999

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