Mitgliederzahl der Zeugen Jehovas stagniert in Deutschland
Katholische Akademie
Dresden - Man stelle sich einmal vor, es ist Samstag, man möchte ein entspanntes Wochenende verbringen, und es klingelt an der Tür. Zwei adrett gekleidete Personen möchten ein Gespräch beginnen und stellen Fragen. "Was ist der Sinn des Lebens? Wie sehen Sie die Zukunft? Wird nicht alles schlimmer? Wo kann man Hoffnung haben, wem kann man vertrauen?" Die meisten Menschen haben diese Erfahrung schon gemacht - es ist ein Besuch der Zeugen Jehovas. Aber wie soll man darauf reagieren? Vielen Menschen ist überhaupt nicht klar, was sich hinter dieser Religionsgemeinschaft verbirgt. Eine gefährliche Sekte? Eine harmlose Abspaltung der christlichen Kirchen?
Um diese Wissenslücke zu schließen, bot die Katholische Akademie Dresden einen Vortragsabend zum Thema an. Klaus-Dieter Pape, Diplom-Theologe aus Tübingen, informierte unter dem Titel "Die Angstmacher" über die in der sogenannten Wachtturmgesellschaft organisierten Gläubigen. Pape betonte, sich ohne Vorurteile dem Thema nähern zu wollen. So griff er weder einzelne Zeugen noch die Gemeinschaft als solche direkt an - der ausgewählte Titel des Vortrags sowie die präsentierten Fakten sprachen jedoch für sich. Kein Wunder, denn die Familie Pape gehörte selbst früher zu den Zeugen Jehovas, der Vater des Theologen ist ein prominenter Aussteiger. Durch die sachliche Berichterstattung schaffte es Klaus-Dieter Pape aber, seine Tätigkeit nicht wie einen persönlichen Kreuzzug wirken zu lassen
Jehovas Zeugen sprechen gern über die Endzeit - die Welt, wie sie heute ist, wird es ihrer Ansicht nach nicht mehr lange geben. Nur sie als Gläubige sind von Gott auserwählt, die "Reinigung der Erde" von allem Bösen zu überleben. Nur sie kennen die Wahrheit, Jehovas Willen. Vor etwa 120 Jahren als kleine Gemeinschaft in den USA gegründet, gibt es heute über 5,5 Millionen Mitglieder
In den 1870er Jahren gründete Charles Taze Russel die "Wachtturm Bibel- und Traktatgesellschaft" und gab die Zeitschrift "Der Wachtturm'' heraus. Die Lehre änderte sich aufgrund nicht eingetretener Vorhersagen mehrfach - so wurde für 1914 der Beginn des irdischen Paradieses verkündet, dieses Datum jedoch zweimal auf 1925 und 1975 verschoben, als jeweils nichts weiter passierte. Seit 1975 begnügt man sich damit, ein "nahes Ende" zu prognostizieren. Diese Endzeiterwartung hat gravierende Auswirkungen auf die Lebensplanung und -führung der Gläubigen. Viele Mitglieder verschieben ihre Ausbildung oder ihren Kinderwunsch auf "nachher" und stellen sich heute als Prediger in den Dienst der Zeugen. Zudem verbietet die Lehre auch jegliche aktive Mitwirkung in der Gesellschaft. So ist für die Zeugen das Wählen des Bundestages ebenso sinnlos wie die Beseitigung von Mißständen und das Engagement für Bedürftige. Alles außerhalb der Wachtturmgesellschaft halten sie für ,satanisch', wie Klaus-Dieter Pape berichtet. Darunter fallen auch die christlichen Kirchen und das Judentum
Im Wachtturm war schon zu lesen, der Staat Israel werde "ausgelöscht" und das Christentum sei die "Hure Babylons" und verkünde nicht die wahre Botschaft. Klaus-Dieter Pape kritisierte die Bibelinterpretationen der Zeugen als nicht haltbar - die Schrift werde nicht im Kontext gelesen, sondern nur einzelne Stellen aus dem Zusammenhang gerissen: "Wenn ein Zeuge Jehovas sich in der Bibel auskennen würde, so meine provokante These, dann wäre er nicht mehr Zeuge Jehovas." Durch die inhaltliche und rhetorische Schulung machten die Zeugen zwar den Eindruck der Bibelfestigkeit, die Interpretationen seien aber immer durch den Wachtturm vorgegeben. Pape hob besonders auch die Art und Weise hervor, wie die Organisation ihre Mitglieder überwacht. Theoretisch sei zwar alles freiwillig, praktisch aber werde die Leistung der Brüder und Schwestern exakt kontrolliert - der Zeitaufwand für die Missionierung sowie der Absatz von Literatur wird festgehalten und ausgewertet. Es gibt zwar nicht die Pflicht, sondern nur das "Vorrecht", zu predigen. Gleichzeitig ist aber ein zu geringer Einsatz eine "Versündigung gegen Jehova". Die Gleichsetzung der Außenwelt mit dem Satanischen und der Unwahrheit macht es den Mitgliedern nahezu unmöglich, auszusteigen
Die Wachtturmgesellschaft tut laut Pape alles, um die Zeugen von jeglicher Kritik, beispielsweise von Abtrünnigen, fernzuhalten. "Setze nicht auf den eigenen Verstand und die eigenen Gefühle", beschreibt er die Anweisung der geistigen Führer. Weitere Informationen zur Verbreitung der Zeugen Jehovas in Sachsen und der Welt gab am Vortragsabend der Sektenbeauftragte des Bistums, Kaplan Gerald Kluge aus Schmochtitz. Er konnte berichten, daß es in Sachsen etwa dreißig sogenannte Königreichsäle, ein Kongreßzentrum und zahlreiche weitere Räumlichkeiten der Zeugen gibt. Zirka 18 000 Menschen gehören in Sachsen zu den Zeugen Jehovas - mit 0,4 Prozent der Bevölkerung doppelt soviele, wie im Bundesdurchschnitt (insgesamt 166 000 / 0,2 Prozent)
In der Öffentlichkeit treten die Zeugen neben ihrer Missionstätigkeit manchmal auch durch Großveranstaltungen mit zehntausenden Menschen in Erscheinung, so etwa im Dresdner Rudolf-Harbig-Stadion. Kaplan Kluge führte aus, daß nach dem ihm vorliegenden Zahlenmaterial die Missionserfolge der Zeugen äußerst gering sind - so braucht ein Team von zwei Zeugen im Schnitt 25 Jahre (pro Person über 7000 Stunden) Predigtdienst, um einen einzigen Menschen zu überzeugen. Nach seinen Berechnungen geht die Zahl der Zeugen sogar zurück - den etwa 3300 effektiv neugewonnenen Mitgliedern im letzten Jahr stehen geschätzte 3800 Aussteiger gegenüber. Zum Vergleich: Das entspricht einer Austrittsquote von 2,3 Prozent, wogegen die beiden großen Kirchen in Deutschland nur zwischen 0,45 und 0,85 Prozent Austritte pro Jahr verbuchen. Starkes Wachstum haben die Zeugen Jehovas nur noch in den osteuropäischen Ländern sowie in Südamerika zu verzeichnen. Selbst dort, wo sie traditionell stark sind - etwa in den USA und Westeuropa - stellen sie immer nur weniger als ein Prozent der Bevölkerung
Zum Vortrag in die Katholische Akademie waren offenbar auch mehrere Zeugen Jehovas gekommen, doch nur einer gab sich als solcher zu erkennen. Er begrüßte den Abend als gute Möglichkeit des Austausches, beklagte aber die mangelnde Gesprächsbereitschaft der Christen sowie deren Berührungsängste mit den Zeugen
Klaus-Dieter Pape gab die Kritik jedoch umgehend zurück - die Zeugen seien es schließlich, die Berührungsängste hätten; ihre Königreichsäle seien für eine offene Diskussion jedenfalls tabu. Und auch Kaplan Gerald Kluge kritisierte, das Auftreten der Zeugen lade nicht unbedingt zu einem Gespräch ein. Die Lehre der Kirche werde angegriffen und man wisse schließlich, daß der nette Besuch vor allem das "Abwerben" zum Ziel habe
Christian SaadhoffAufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 07.03.1999