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Aus der Region

Werk gibt Zeugnis von Hoffnungen und Enttäuschungen in diesem Jahrhundert

Christa Wolf

Christa Wolf, geboren am 19. März 1929, gehört zweifellos zu den bekanntesten deutschsprachigen Schriftstellern der Gegenwart. Ihr Werk spiegelt die Hoffnungen und Enttäuschungen vieler Bewohner der DDR wider

Eines ihrer Themen ist das Hineinwirken der Vergangenheit in die Gegenwart. Bereits in ihrer ersten großen Erzählung, "Moskauer Novellen", aus dem Jahr 1961 stellt sie die Frage, wie Menschen, die im Faschismus aufgewachsen sind, dessen Ideologie hinter sich lassen und sich im Innersten ändern können. In dieser Erzählung begegnen wir bereits auch der Frauenfigur, die wir - gewandelt zwar - in den meisten ihrer Bücher wiederfinden: Vera, die gegen Ende des Zweiten Weltkrieges mit einem Flüchtlingstreck aus Polen nach Ostdeutschland kommt, hier in einem Büro arbeitet und danach das Dorf verläßt, um zu studieren

Sie ist die erste in der Reihe der sensiblen, ehrlichen, offenen Frauen, die sich mit Halbheiten nicht zufrieden geben. Die ein Höchstmaß an Ehrlichkeit von sich selbst und von ihrer Umgebung verlangen. Ein ehemaliger sowjetischer Leutnant, den sie unmittelbar nach Kriegsende kennengelernt hatte und in den 50er Jahren wiedertrifft, sagt zu ihr: "Weißt du, was mir an dir so gefällt? Daß du nie fertig wirst, daß du nie auf alle Fragen eine Antwort weißt. Daß du nie aufhörst zu wachsen. Das macht dich so jung. Aber gerade deshalb habe ich Angst um dich. Du bist so ungeschützt. Immer schon hast du die Menschen zu nahe an dich herangelassen. Irgendwo wirst du sehr enttäuscht werden."

Ähnliches könnte einer auch zu Rita Seidel aus dem "Geteilten Himmel" sagen, zu Nelly aus "Kindheitsmuster" oder zu Christa T. Sie alle wollen sich nicht verhärten, sie wollen nicht abstumpfen oder gleichgültig werden. Mit ihrer Ehrlichkeit und Offenheit setzen sie andere in Erstaunen, stellen sie in Frage und bringen sie im besten Falle ebenfalls zu Ehrlichkeit und Offenheit

Diese Frauen träumen von einer menschlichen Welt, die nach den Vorstellungen der Sozialistin Christa Wolf nur eine sozialistische Welt sein konnte. Während in der "Moskauer Novelle" und im "Geteilten Himmel" diese menschliche Welt in naher Zukunft zu liegen scheint, taucht in "Nachdenken über Christa T." (1969) zum ersten Mal die Furcht auf, diese nach menschlichen Maßen und Bedürfnissen eingerichtete Welt könnte ein Traum bleiben. In ihrem letzten Buch, dem Roman "Medea" (1996), liegt dieses Reich in der Vergangenheit. Die vorläufig letzte von Christa Wolfs Frauengestalten muß erkennen, daß die großen Menschheitsentwürfe für eine gerechte Welt nicht zu verwirklichen sind

Die Zukunftsgewißheit des Frühwerks wird zur Zukunftslosigkeit des Spätwerks. In "Nachdenken über Christa T." heißt es: "Soll den Mund verziehen, wer will: Einmal im Leben, zur rechten Zeit, sollte man an Unmögliches geglaubt haben."

Christa Wolf hat auch zu Zeiten, da sie an "Unmögliches" geglaubt hat, die Augen nicht vor der Wirklichkeit verschlossen. Das hat ihr neben Bewunderung stets auch Anfeindungen eingetragen. 1976 gehörte sie zu den Erstunterzeichnern des Protestes gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Bis zuletzt hat sie an die Verbesserlichkeit des Sozialismus geglaubt. Die Geschichte hat einen anderen Verlauf genommen. Christa Wolfs Werk ist durch seinen großen Ernst, seine Sensibilität und Offenheit ein bewegendes Zeugnis von Hoffnungen und Enttäuschungen dieses Jahrhunderts. In seinen besten Stücken ist es Kunst. Das heißt: lebendig und hilfreich

Jürgen Israel

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 10 des 49. Jahrgangs (im Jahr 1999).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 14.03.1999

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