Dem Lebensgeheimnis auf der Spur
Mechthild von Hackeborn (Teil II)
Das Bistum Magdeburg erinnert in diesem Jahr an Mechthild von Hackeborn. Die Helftaer Mystikerin starb am 19. November 1299. Im zweiten Beitrag beschäftigt sich Dr. Hildegund Keul (Magdeburg) mit Mechthilds Mystik:
Für Mechthilds Leben und ihr Werk ist es entscheidend, daß sie immer wieder krank ist und unter großen Schmerzen leidet. Ihre Mystik entsteht in Auseinandersetzung mit eigener Krankheit, aber auch mit dem Leiden all der Menschen, die im Kloster Zuflucht suchen
Ein wichtiger Bestandteil ihres geistlichen Lebens liegt im Gebet für alle Lebenden und Toten, mit denen das Kloster verbunden ist. Mechthilds Blick ist nicht auf die eigene kleine Lebenswelt beschränkt, sondern weitet sich auf die Sorgen und Nöte, Angst und Verzweiflung der Menschen ihrer Zeit
Die Nonnen im Kloster sind nicht von der Welt isoliert. Vielmehr erleben sie in besonders krasser Form die Sorgen und Nöte ihrer Mitmenschen. Frauen und Männer aus der Umgebung von Helfta genauso wie Menschen von weither kommen zu ihnen, um im Kloster Trost und Beistand zu empfangen. Überall ist das Leben vom Tod bedroht. Menschen trauern um den Verlust von verwandten und geliebten Menschen; sie leiden an dem nagenden Gefühl des Ungenügens, wenn sie den Anforderungen ihres Alltags nicht gewachsen sind; sie werden von Schuldgefühlen geplagt, wenn sie ihren eigenen Idealen und Lebensvorstellungen nicht genügen
Die Mystik der Nonnen von Helfta entsteht aus der Konfrontation mit Krankheit und Schmerz, Verwundung und Tod. Sie ist eine Anrufung des Lebens, die verhindert, daß Menschen in der Ohnmacht des Todes versinken. Mystik zielt darauf, die bedrängende Situation zu erschließen und auf das Leben hin zu öffnen. Sie bringt Gott zur Sprache, und zwar nicht irgendwo, sondern im konkreten Alltag der Menschen ihrer Zeit
Wo Gewalt und Zerstörung übermächtig zu werden drohen, ermöglicht die Rede von Gott Widerstand im Zeichen des Lebens. Sie widersteht dem Tod, weil sie Gott als die Quelle des Lebens zugänglich macht. In der Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen offenbart sich Gott als das Geheimnis ihres Lebens
Mystik ist nichts Exklusives, das nur wenigen Menschen zugänglich wäre. Schon im Mittelalter haben die Schwestern von Helfta ihre Werke für die Menschen ihrer Zeit geschrieben. Und sie können auch für die heutige Zeit ein Zeichen der Hoffnung und der Zukunft sein. Karl Rahner hat einmal behauptet, "daß der Christ der Zukunft ein Mystiker sei, oder nicht mehr sei. Wenn man unter Mystik nicht seltsame parapsychologische Phänomene versteht, sondern eine echte, aus der Mitte der Existenz kommende Erfahrung Gottes, dann ist dieser Satz sehr richtig. ... Der Fromme von morgen wird ein ,Mystiker' sein, einer, der etwas ,erfahren' hat, oder er wird nicht mehr sein."
Die Bezeichnung Mystik hat sich aus dem griechischen Wort für Geheimnis entwickelt. Dabei geht es nicht um dubiose Geheimnisse außerirdischer Art, die vielleicht spannend, aber für die konkrete Lebensgestaltung uninteressant sind. Das Gegenteil ist der Fall: Die Mystikerinnen sind dem Geheimnis des Lebens auf der Spur. Es ist das Geheimnis des Alltags, das im Mittelpunkt ihres Denkens und Handelns steht
Die Mystik macht Gott erfahrbar als die Macht, die dem Alltag seine erstickende Ohnmacht nimmt und ihn zu seiner schöpferischen Kraft befreit. Im Gespräch mit Gott und den Menschen, in der liturgischen Feier und im persönlichen Gebet versucht Mechthild, gerade auch in Krankheit und Schmerz zur Quelle des Lebens zurückzufinden
Dr. Hildegund Keul
(wird fortgesetzt)
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 14.03.1999