Was mit Worten nicht erklärbar ist...
Kunsttherapie
Dresden (fun) - Sonnenstrahlen fallen durch die Klinikfenster. Sie werden aufgesaugt von den satten Farben der Bilder, die auf dem Boden liegen. Anne Walther kniet vor ihnen und sortiert die kleinen Kunstwerke. "Heute war ein entspannter Tag. Die Patienten hatten gute Laune, weil so schönes Wetter ist." Anne Walther ist Kunsttherapeutin im Dresdner St. Marienkrankenhaus. Seit knapp einem Jahr arbeitet sie mit psychisch gestörten Menschen. Als Ventilwirkung bezeichnet die junge Frau ihre Arbeit: "Durch das Malen kommen die Patienten in Kontakt mit ihren inneren Bildern und drücken somit das aus, was manchmal nicht mit Worten zu erklären ist."
Die 30jährige Künstlerin redet ruhig, scheint jedes Wort genauestens ausgesucht zu haben. Ihre Art färbt ab. Ruhe und Entspannung verbreiten sich im Raum. Kunsttherapie sei eben eine Möglichkeit, Patienten zu heilen ohne große Nebenwirkungen. Um zu dieser Überzeugung zu gelangen, ist Anne Walther jedoch schon einige Wege gegangen. Gelernt hat die aus dem thüringischen Gotha stammende Künstlerin zunächst einmal den Beruf der Schmuckgürtlerin
Das ist heute vergleichbar mit Schmuckdesign, was sie danach vier Jahre lang an der Fachhochschule für angewandte Kunst in Heiligendamm in der Nähe von Rostock studierte. Zurück in Thüringen arbeitete sie in einer Schauwerkstatt und stellte historischen Schmuck her. Erfüllt hat sie das nicht. So suchte sie nach weiteren Herausforderungen. Die fand sie in Erfurt, in Künstlerwerkstätten bot sie Workshops an. "Dort konnte ich mit den Teilnehmern zusammen neue Ideen suchen, mit Techniken experimentieren und Kreativität fördern." Und genau diese drei Punkte seien auch in der Kunsttherapie wiederzufinden
1996 begann Anne Walther ein zweijähriges Aufbaustudium an der Dresdner Hochschule für bildende Künste zur Kunsttherapeutin. In dieser Zeit lernte sie über ein Praktikum das St. Marienkrankenhaus kennen, in dem sie jetzt auf Honorarbasis vier Stunden pro Woche arbeitet. Doch das ist nicht alles: Kunsttherapeutin ist Anne Walther noch in einem Dresdner Begegnungszentrum für geistig Behinderte und in einem Krankenhaus in Görlitz. Diese Arbeit macht ihr Spaß. Reicht jedoch nicht aus. In ihrer Wohnung hat sie sich ein Atelier eingerichtet. Dort verbringt sie ihre Freizeit, um Schmuck für sich und ihre Freunde herzustellen. Ein eher experimenteller Schmuck. "So wie die Kette, die ich gerade trage." Sie zeigt auf ihren Hals. "Ich verarbeite darin meine Träume und meine Gefühle." Ein verblaßter Traum ist für Anne Walther eine eigene Schmuckwerkstatt. Die Illusion, daß sie davon leben kann, hat sie längst aufgegeben. "Mein Kunststudium habe ich zu anderen Bedingungen angefangen. Zu DDR-Zeiten haben wir nicht gelernt, wie man sich vermarktet.
Doch unglücklich scheint sie nicht. Mittlerweile ist für Anne Walther beides wichtig geworden: Ihre Träume und Gefühle in ihrem Schmuck umzusetzen und Gefühle und Träume der Patienten über die Bilder herauszufinden. "Es hat eine Weile gedauert, aber mittlerweile sehe ich, daß Kunsttherapie funktioniert." Einzeln, zumeist aber in einer gemischten Gruppe von sieben bis zehn Patienten therapiert Anne Walther die seelisch kranke Menschen. Die Sitzung dauert eine bis anderthalb Stunden. In dieser Zeit entsteht meist ein Bild. Welches Thema sie vorgibt, überlegt sich Anne Walther zu Beginn der Sitzung. Herrscht eine gedrückte Stimmung? Streiten die Patienten untereinander, wer in der Nacht geschnarcht hat? All das registriert sie und bestimmt danach den Inhalt der Therapiestunde.
Wer mit dem Malen fertig ist, kann mit ihr über das Bild sprechen. Oder auch nicht. Interpretieren und falsches Auswerten - das lehnt sie ab. Bei den Gesprächen kommen die Patienten jedoch oftmals auf Gedanken, die sie sich vorher nicht gemacht haben - das optimale Ergebnis. Doch schon wenn ein Patient sein Bild nach der Entlassung mit nach Hause nimmt, ist das für Anne Walther ein kleiner Erfolg. Und wenn sie merkt, daß sich nach dem Malen die geduckte Haltung eines depressiven Patienten verändert hat, ist das die Bestätigung ihrer Arbeit. Eben wenn Malen die Wirkung von Sonnenstrahlen hat
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 04.04.1999