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Aus der Region

Das Geheimnis heißt Erinnerung

Kreuzweg an der Grenze

Marienborn (tdh) - Es war eine besondere Nacht für rund 170 katholische und evangelische Jugendliche aus West- und Ostdeutschland: Sie hatten sich - kurz vor Ostern - zu einer deutsch-deutschen Wache-Nacht an der ehemaligen Grenzübergangsstelle Marienborn an der Autobahn A 2 versammelt. Deutsch-deutsche Wache-Nacht, das hieß: Begegnung mit Zeitzeugen und Gespräch, aber auch Gebet und Meditation, um ein Zeichen gegen das Vergessen zu setzen und an die Kraft zu erinnern, die auch im Leid aus dem Glauben erwachsen kann. Der Ort war gewählt worden, um den jungen Leuten die DDR als einen Ort näherzubringen, "wo ein ganzes Volk gekreuzigt wurde", wie es in der Einladung hieß

Einer der zentralen Punkte der Nacht war deshalb auch ein Kreuzweg an den markanten Punkten der Anlage: Lastwagen-Abfertigung, Wachturm, Kommandobrücke oder Leichenhalle. Vier junge Frauen aus Viersen (Nordrhein-Westfalen) hatten zu den Stationen des Leidensweges Jesu Parallelen im Lebens- und oft auch Leidensweg von Menschen in der DDR gesucht und die Texte für den Kreuzweg geschrieben. Die erste Station ("Jesus wird zum Tode verurteilt") erinnerte beispielsweise an die Gründung der DDR: "Jesus wird zum Tode verurteilt. Der Grundstein für seinen Leidensweg. Die Gründung der DDR - für viele Menschen der Beginn eines Lebens voller Ängste", hieß es im Text. An anderen Stationen ging es um Erziehung im Sozialismus, Flucht über die Grenze, die Staatssicherheit oder den 17. Juni 1953 bis zu Mauerfall und Wiedervereinigung. "Wer sich in einer ausweglosen Situation an Jesus erinnert, wird in Hoffnung ein Stück Erlösung finden. Denn: Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung!", hieß es am Ende des Kreuzweges

Allerdings ging es nicht nur darum, jugendgemäß eine alte religiöse Gebetsform wie den Kreuzweg umzusetzen. "Wir müssen aus der Vergangenheit lernen. Es ist nicht selbstverständlich, daß wir in einem demokratischen Staat leben", betonte Kaplan Elmar Nass aus Viersen (Nordrhein-Westfalen), einer der Initiatoren. Deshalb hatten sich die Jugendlichen lange vor der Wache-Nacht vorbereitet, etwa im Gespräch mit einem ehemaligen NVA-Offizier, der den Schießbefehl verweigerte und später Theologie studierte. Auch zur Wache-Nacht selbst waren Zeitzeugen gekommen: Manuela Eickenroth aus Berlin schilderte den jungen Leuten ihren Leidensweg, der an dieser Stelle vor 20 Jahren mit dem Scheitern eines Fluchtversuches begann. Und der evangelische Pfarrer Matthias Storck, der in Stasi-Haft gesessen hat, feierte mit den jungen Leuten einen ökumenischen Gottesdienst

Unterstützt wurde die Aktion von Vertretern der Kirche, etwa dem Magdeburger Bischof Leo Nowak, und Politikern. Thüringens Ministerin für Bundesangelegenheiten, Christine Lieberknecht, betonte in ihrem Gruß: "Es kommt auf jeden von uns an, ob wir uns die Freiheit erhalten, ob wir uns wahre - vor allem auch innere - Freiheit erringen und gegen Abhängigkeiten und geistige Unfreiheiten ankämpfen."

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 14 des 49. Jahrgangs (im Jahr 1999).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 11.04.1999

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