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Aus der Region

Wenn der Pfarrer nur noch zur Messe kommt

Seelsorge

Familie Hilbrich

"Das ist nicht meine Kirche, das ist eure Kirche!" Diese Worte seines ehemaligen Pfarrers Theodor Grella haben sich Siegfried Hilbrich tief eingeprägt. Der Diakonatshelfer, der mit seiner Familie gegenüber der katholischen Kirche Unbefleckte Empfängnis in Schlieben wohnt, fühlt sich mitverantwortlich für die Gemeinde und das kleine Gotteshaus, das im Volksmund "Schliebener Hofkirche" genannt wird. Sein Großvater, der Vater und die Onkel des Malermeisters hatten nach dem Krieg gemeinsam mit den Familien Forberger, Leiker und anderen einen Kuh- und Schweinestall zur Kirche umgebaut. Da wo im Umbau der Altarraum entstanden ist, war einstmals geschlachtet worden

Seit 1983, als die langjährige Seelsorgehelferin Elisabeth Kreuzer in den Ruhestand ging, gibt es in der Kleinstadt Schlieben, am Ostrand des Bistums Magdeburg, keinen hauptamtlichen kirchlichen Mitarbeiter mehr. Die Außenstationen, die früher noch zu der Gemeinde gehörten, sind mittlerweile alle aufgelöst worden. Von den 50 Katholiken, die es in Schlieben gibt, gehören etliche zur Großfamilie Hilbrich

Siegfried Hilbrichs Familie lädt die kleine Gemeinde zu Kreuzweg- und Maiandachten ein, die sie selber gestaltet. Bei Bedarf stellen der selbständige Malermeister und sein Bruder ihre Diensttransporter zur Verfügung, um Gemeindemitglieder aus umliegenden Ortschaften zur heiligen Messe abzuholen oder um Jugendliche zu Veranstaltungen nach Herzberg zu fahren. Dort wohnt der zuständige Pfarrer Ulrich Klytta, der nur zur Eucharistiefeier nach Schlieben kommt. Hilbrichs Ehefrau Barbara, die beruflich ebenfalls voll eingespannt ist, macht mit ihrer Schwägerin die Kirche sauber und kümmert sich um den Blumenschmuck, ein Bruder und eine Tochter spielen Orgel, der Sohn und die Neffen ministrieren. Zwei Tanten und ein Cousin mit seiner Familie bewohnen das Pfarrhaus. Es ist deshalb kein seltenes Bild, daß im katholischen Pfarrhof Kinderwäsche zum Trocknen hängt

Die Görlitzer Gemeinde Neupetershain am Rande des Braunkohletagebaus lebt seit Mitte der 80er Jahre ohne eigenen Seelsorger. Von 1987 bis 1989 bewohnten die Mägde Mariens das Pfarrhaus. Seit 1033 hatten sie das katholische Altenheim im Ort betreut. Das Heim in einer schönen großen Villa mit Park war jahrzehntelang der Mittelpunkt des Gemeindelebens gewesen. Wegen ungeklärter Eigentumsfragen mußten die Ordensschwestern das Heim, das zeitweise auch von Kindern bewohnt worden war, aufgeben. Nach dem Krieg hatten sich die katholischen Flüchtlinge, die aus Schlesien nach Neupetershain gekommen waren, um die Schwestern geschart. Damals zählte die Gemeinde fast 600 Katholiken, heute sind es noch 100, die meisten von ihnen schon alt und gebrechlich. Etwa 15 bis 20 kommen regelmäßig zum Gottesdienst

Der Diakonatshelfer Johannes Lamm und seine Frau Marlis sind seit 1989 "die guten Geister" im Neupetershainer Pfarrhaus. Sie hatten nach einer neuen Bleibe für sich und ihre drei Kinder gesucht, als ihr langjähriger Wohnort Kausche, ein Nachbarort von Neupetershain, den Baggern des Braunkohletagebaus weichen sollte. Das Pfarrhaus wurde frei, weil die Mägde Mariens ihre Niederlassung im Bistum Görlitz aufgeben wollten. So entschloß sich Familie Lamm, sich und ihre 25 Bienenvölker auf dem großen Pfarrgelände in unmittelbarer Nachbarschaft des früheren Altenheims anzusiedeln

Mit der Kirche Heilig Geist und Elisabeth, die nächstes Jahr zu Weihnachten 40 Jahre alt wird, ist ein Stück ihrer eigenen Lebensgeschichte verknüpft. Johannes Lamm, der als Maler in einer PGH gearbeitet hat, half selbst beim Bauen und malerte so manches Mal die Pfarrgebäude. Dem Organisationstalent des früheren Pfarrers Franz Grabisch ist es zu verdanken, daß Kirche, Gemeinde und Pfarrhaus in Feierabendarbeit entstanden. Am Wochenende haben Männer der Gemeinde in der örtlichen Ziegelei Steine für den Kirchbau selbst gebrannt

Mittlerweile sind Johannes und Marlis Lamm beide im Ruhestand, die erwachsenen Kinder sind ausgezogen. Die beiden kümmern sich allein um die Reinigung von Kirche und Gemeinderaum, den Blumenschmuck und den großen Pfarrgarten, sie laden zu Andachten ein und sind Ansprechpartner für die evangelische Gemeinde vor Ort, die den Katholiken sehr freundschaftlich verbunden ist und deren Pfarräume für Gottesdienste, den Religionsunterricht und für Veranstaltungen der Frauenhilfe mitnutzt

Sie freuen sich, daß eine gute Organistin und zwei Lektoren zu den Gemeindemitgliedern gehören. Daß ihre Kirche - so lange wie es geht - erhalten wird, liegt ihnen am Herzen, und daß darin weiter gebetet und gesungen wird. Sie haben den Verlust ihres weggebaggerten Wohnortes erlebt, Johannes Lamm auch den Verlust seiner schlesischen Heimat. Es schmerzt sie, nun mitzuerleben, daß die Zahl der Gottesdienstbesucher in ihrer Gemeinde immer kleiner wird, daß es keine Ministranten mehr gibt und nur ein einziges Kind, das zur Gemeinde gehört

In Schlieben ist es um den Nachwuchs ebenfalls schlecht bestellt. Da es im Pfarrort Herzberg nicht viel anders aussieht, haben sich die Hilbrich-Sprößlinge der Katholischen Jungen Gemeinde in Lauchhammer angeschlossen. Die Familie nimmt die weiten Anfahrtswege gerne in Kauf, damit die Kinder Gemeinschaftserfahrungen mit gleichaltrigen Christen machen können und die Kirche so als ihr Zuhause erfahren

Beide Gemeinden stehen in engem Kontakt mit der jeweiligen Nachbargemeinde, in der der Pfarrer wohnt. In Schlieben gibt es noch einen eigenen Kirchenvorstand; zwei Schliebener vertreten die Gemeinde im Herzberger Pfarrgemeinderat. Viele Feste werden gemeinsam mit der "Muttergemeinde" gefeiert, es gibt jedoch auch Anlässe, bei denen die Schliebener unter sich bleiben

Die Neupetershainer begehen Geselliges in der Regel mit der Nachbargemeinde Welzow zusammen, je nach Anlaß im Neupetershainer Gemeinderaum oder in Welzow. Zum Jahresbeginn ist der Welzower Pfarrer Hans Geisler nach Großräschen umgezogen. Er ist nun für vier Gemeinden zuständig. Seither gibt es in Neupetershain keinen Sonntagsgottesdienst mehr

An der wöchentlichen Werktagsmesse halten Gemeinde und Pfarrer jedoch fest. Sonntags fahren zwei Autofahrer die rüstigen Gemeindemitglieder in den Nachbarort. Den gebrechlichen Senioren bringt Diakonatshelfer Lamm die heilige Kommunion nach Hause. Soweit es sein voller Terminkalender erlaubt, nimmt sich auch Pfarrer Geisler Zeit für Krankenbesuche in Neupetershain

In den letzten Jahren haben die meisten Gemeindemitglieder im Dorf Telefonanschluß bekommen. Wer beispielsweise ein bestimmtes Gebetsanliegen für die heilige Messe hat oder die Krankensalbung für einen Angehörigen erbittet, greift heute meist direkt zum Telefonhörer und ruft den Pfarrer an. Als Familie Lamm ins Pfarrhaus eingezogen ist, war das noch anders

Johannes Lamm erinnert sich gut an die Mutter, die ins Pfarrhaus kam, um vom Tod ihres einzigen Sohnes zu erzählen. Die Pfarrhausbewohner waren auf eine solche Situation nicht vorbereitet und fühlten sich selber hilflos, aber sie versuchten dennoch, so gut es ging, der Trauernden Trost zu spenden. "Wenn Sie es zu Hause nicht mehr aushalten, können Sie jederzeit zu uns kommen", boten sie ihr an. Die Frau, die mittlerweile selbst gestorben ist, nahm sie beim Wort. Aus Dankbarkeit brachte sie den Lamms später aus ihrem Kleingarten viele Male Blumen für die Kirche mit

Im Erzbistum Hamburg gibt es regelmäßig Zusammenkünfte von Familien, die Pfarrhäuser bewohnen und ähnlich wie die Familien Hilbrich und Lamm ehrenamtlich Verantwortung für Kirche, Pfarrwohnung und Gemeindeleben übernehmen. In den Bistümern Görlitz, Magdeburg, Dresden-Meißen und Erfurt gibt es solche Gelegenheiten zum Erfahrungsaustausch und zur Weiterbildung bisher nicht. Noch ist die Zahl der ehrenamtlichen "Pfarrhaushüter" hier eher klein. Einige von ihnen sind - wie auch Johannes Lamm und Siegfried Hilbrich - Diakonatshelfer. Bei ihren diözesanen Begegnungs- und Besinnungstagen wird mache Frage aufgegriffen, die in ihrer speziellen Situation in einer Gemeinde ohne hauptamtlichen Seelsorger eine Rolle spielt

Kraft zum Durchhalten schöpfen die Familien aus dem Gebet, aus Gesprächen, die die Ehepartner untereinander führen, und aus der Erinnerung an die einstige "Blütezeit" der Gemeinde. Siegfried Hilbrich findet besonderen Trost am Grab von Pfarrer Theodor Grella, der ihn einst getauft hat, der ihm die Verantwortung für die Gemeinde bewußt gemacht hat und der in Schlieben beerdigt ist. Dorothee Wanzek

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 14 des 49. Jahrgangs (im Jahr 1999).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 11.04.1999

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