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Aus der Region

400 Flüchtlinge aus dem Kosovo haben Unterschlupf gefunden

Halberstadt

Große Kinderaugen blicken in meine Kamera. Augen von vier- und siebenjährigen Jungen, die mehr gesehen haben als ich in meinem Erwachsenenleben. Manuel und Manfred sind mit ihrer Mutter Martha aus einem kleinen Dorf vertrieben worden, etwa 70 Kilometer von der Kosovo-Hauptstadt Pristina entfernt. "Das Dorf gibt es nicht mehr", sagt die Mutter mit einem müden Lächeln. Sie kann etwas deutsch, weil sie vor einigen Jahren eine zeitlang in der Schweiz gearbeitet hat. Mit 400 anderen Kosovo-Albanern lebt die kleine Familie seit mehr als einer Woche in der Zentralen Aufnahmestelle des Landes Sachsen-Anhalt für Asylbewerber und Flüchtlinge (ZAST) in Halberstadt

Wie lebte die Familie in ihrer Heimat, gibt es Nachrichten vom Vater, was haben sie auf der Flucht erlebt? Fragen, die mir im Hals stecken bleiben. Wozu das Messer weiter in den Wunden herumdrehen? Was könnten sie mir erzählen, was nicht schon eindringlicher und zum Erbrechen anschaulicher über die deutschen Fernsehbildschirme geflimmert wäre?

Auch Anja Rennwanz und Christine Vollmer aus der Verfahrensberatung der Caritas in der ZAST stellen keine Fragen. "Es braucht Zeit, bis die Menschen bereit sind, von ihren Fluchterlebnissen zu erzählen", wissen sie. Gerade die Frauen öffnen sich nur zögerlich, und wahrscheinlich werden sie niemals mit einem Mann über ihre traumatischen Erfahrungen sprechen

Die Caritas-Beraterinnen haben in den letzten Tagen in enger Zusammenarbeit mit den Beschäftigten der Aufnahmestelle vieles geleistet, was eigentlich gar nicht zu ihren Aufgaben gehört: Sie halfen Flüchtlingen, erkrankte Angehörige im Halberstädter Krankenhaus zu besuchen, vermittelten Spenden und stellten Kontakte zu Psychologen und Dolmetschern her. Einen Raum, in dem die ABM-Mitarbeiterin Ute Krause sonst Asylbewerbern Deutschunterricht gibt, funktionierten sie kurzerhand zur Kleiderkammer um. Unterstützt wurden sie dabei von vielen ehrenamtlichen Helfern. Der 15jährige irakische Asylbewerber Ali packte gleich bei der Ankunft der Kosovo-Albaner mit zu und wies die Familien in ihre Quartiere ein. Seither sind er und seine Eltern jeden Tag in der Caritas-Kleiderkammer zu finden. Gemeinsam mit Ute Krause sortieren sie die eintreffenden Sachspenden und helfen den Flüchtlingen, Kleidung und Schuhe in passender Größe herauszufinden. Halberstädter Bürger haben einen Fahrdienst zwischen dem Krankenhaus und dem außerhalb der Stadt auf einem alten Militärgelände gelegenen Flüchtlingsheim organisiert

Schnell haben die Albaner angefangen, sich selbst um die Organisation ihres Lageralltags zu kümmern. Sie haben ein Sprecherteam gebildet, um Informationen schnell weitergeben zu können. Eine Lehrerin, die zu den Flüchtlingen gehört, gibt den Kindern Unterricht. Die Beschäftigung mit Alltagsproblemen hilft den ZAST-Bewohnern, an der Furchtbarkeit des Erlebten und den Sorgen um die vermißten Angehörigen nicht zu verzweifeln. Alte Leute haben es besonders schwer, die schrecklichen Bilder in ihrem Kopf beiseite zu schieben, hat Gabriele Mertens, die Abteilungsleiterin für Migrationsdienste beim Magdeburger Diözesan-Caritasverband, beobachtet. Sie war dabei, als die Vertriebenen in Halberstadt ankamen und hat sie seither mehrmals dort besucht. Sie sah alte Menschen, die bei ihrer Ankunft weinten. Noch bedrückender fand sie den Anblick derer, die keine Tränen mehr hatten, die einfach nur mit leerem Blick vor sich hinstarrten. Junge Mütter haben kaum Zeit, in der Unbegreiflichkeit des Geschehenen zu versinken. Ihre kleinen Kinder, die Hunger haben und spielen wollen, holen sie schnell in die Gegenwart zurück, wenigstens tagsüber

In Halberstadt werden den Kosovaren derzeit provisorische Papiere ausgestellt. Den meisten sind die Ausweise von serbischen Soldaten abgenommen worden. In den nächsten Tagen sollen sie auf kleinere Unterkünfte verteilt werden. Sie bekommen eine Aufenthaltsbefugnis, die zunächst auf drei Monate begrenzt ist. Mit einer schnellen Rückkehr rechnet niemand von denen, die die Verwüstung ihres Heimatortes beobachtet haben

Viele möchten ihre Angehörigen nach Deutschland holen, die unsicher und schlecht versorgt in mazedonischen oder albanischen Zeltlagern leben. Manche möchten zu Verwandten weiterrreisen, die in anderen Bundesländern leben. Die Caritas-Berater müssen den Albanern immer wieder sagen, daß Familienzusammenführungen nach derzeitiger Rechtslage für sie nicht möglich sind

Auch wenn die Flüchtlinge die ZAST verlassen, möchte sich die Magdeburger Diözesan-Caritas weiter für sie einsetzen. Darüber hinaus bittet Gabriele Mertens Gemeinden und Caritasgruppen, "mit offenem Herzen" auf Flüchtlinge zuzugehen und ihnen zu zeigen, daß sie willkommen sind. Als die Bosnien-Vertriebenen vor einigen Jahren nach Deutschland kamen, hätten nur wenige Gemeinden den Kontakt gesucht. "Die wollen nichts von uns. Fast alle sind Muslime, und außerdem verstehen sie kein Deutsch", lauteten Entschuldigungen, die die Caritas-Mitarbeiterin zu hören bekam. Sie selbst hat unzählige Male die Erfahrung gemacht, daß sich viele Hürden leicht überwinden lassen. Der Wunsch nach menschlicher Begegnung kann Sprachbarrieren schnell hinwegfegen

Dorothee Wanzek

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 17 des 49. Jahrgangs (im Jahr 1999).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 02.05.1999

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