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Aus der Region

Zum Verhältnis von Psychotherapie und Religion

Pastoralkonferenz

Erfurt - Religion und Psychotherapie müssen zu Verbündeten werden. Dafür hat sich der Theologe und Psychotherapeut Dieter Funke ausgesprochen. In einem Referat zum Thema "Jenseits von Heilung: Psychotherapie als Religion?" sagte Funke, ein fruchtbarer Dialog sei dringend geboten, wenn es darum geht, den Wunsch des Menschen nach Heilsein zu verstehen, ohne ihn erfüllen zu können, und um nicht wechselseitig der Versuchung zu erliegen, jeweils Religions- beziehungsweise Psychotherapieersatz zu werden

Funke konstatierte zu Beginn seiner Ausführungen, daß die Kirchen ihr Monopol in Sachen religiöser Sinnstiftung und Seelenführung längst hätten aufgeben müssen. An die Stelle einer zyklischen, in klare Phasen gegliederten Biographie, die von den Kirchen rituell an den entscheidenen Übergangsstellen begleitet wurde, sei ein weitgehend unstrukturierter linearer Ablauf des Lebens getreten, der von irrigen Vorstellungen der eigenen Unsterblichkeit begleitet sei. Die Gestaltung der Übergänge, so etwa in Form der Sakramente der Taufe, der Firmung, der Trauung und der Krankensalbung, liege nicht mehr in der Hand der Priester, sondern würde weitgehend von einer weltlichen Priesterschaft besorgt. Die kirchlichen Riten zu den Lebenswenden seien zu bedeutungslosen bürgerlichen Familienfeiern verkommen. Der Sinn der religiös-rituellen Begleitung der Übergangsphasen bei Hochzeit und Geburt eines Kindes, Eintritt ins Rentenalter sowie Sterben und Tod liege im Vertrautwerden mit der Tatsache der eigenen Endlichkeit. Da dies eine Art menschlichen Grundbedürfnisses sei, seien heute an die Stelle der religiösen Rituale "medizinische Prozeduren" getreten, welche den jeweiligen Übergang erlebbar machten, befand Pater Funke

Der Bedarf des Menschen an Übergangsriten, welches das Bewußtsein des Todes und der Begrenztheit des Lebens wachhielten, werde nunmehr von einer priesterschaftlichen Ärzteschaft abgedeckt. Im Zuge der gesellschaftlichen Differenzierung habe sich aus der kirchlichen Sorge um die Seelen eine weltliche Seelen-Heilkunde entwickelt. So bezeichne sich die Allgemeine Ortskrankenkasse AOK neuerdings als "Gesundheitskasse", also als eine Organisation, die für das gesamte Heil der Menschen zuständig sei

Für die Seelsorge stellte Pater Funke einen gravierenden Verlust an Wissen im Umgang mit der seelischen Wirklichkeit des Menschen fest. Die Seelsorge kümmere sich, oft in Unkenntnis der seelischen Wirklichkeit des Menschen, nur noch um deren abstraktes Seelenheil. Die konfliktlösende Kraft der Religion im Hinblick auf Grundfragen des Lebens wie Liebe und Haß, Schuld und Vergebung, Abschied und Neubeginn, Leben und Sterben könnte bestenfalls als moralisches Pflichtgebot, nicht aber als psychisches und damit vormoralische Verordnung erfahren werden.

Für den Theologen und Psychotherapeuten stellt sich die Frage, wie Religion und insbesondere das Christentum Kompetenz zurückgewinnen kann, die heute viele Menschen bei der modernen Psychotherapie suchen? Es könne gelingen, wenn beide Wissenschaften - die alte Theologie und die sehr junge Psychotherapie - voneinander lernten, so Funke. Die Psychotherapie stehe in der Gefahr der Selbstüberschätzung. Die Gefahr Religionsersatz zu werden, sei groß und permanent gegeben, indem die Psychotherapie psychologisches Verstehen als umfassende Sinndeutungen anbiete

Die Psychotherapie übernimmt, so Funke, die Aufgabe, seelisch leidende Menschen aus ihren Fixierungen und ihren Lebenseinschränkungen herauszuführen. Dieser Prozeß geschehe mittels Kommunikation. Psychotherapie wolle dem Leidenden helfen, seinem Leid auf den Grund zu gehen, es tiefer zu verstehen. Diesem Vorgang, der das Heilen an Einsicht in Wahrheit bindet, wohne eine religiöse Dimension inne. Das Bewußtwerden der inneren Wirklichkeit, des wahren Selbst, sei oft mit einem tiefen Erschrecken, "einem heiligen Schaudern", wie Funke es nennt, verbunden. Das Verdrängte hat dem Leidenden die Freiheit für eine kreative Lebensführung genommen. Im Falle einer gelungenen Psychotherapie werde es ihm möglich aufzuhören, sich von Illusionen über die Wirklichkeit hinwegtäuschen zu lassen. Die Psychotherapie werde in der modernen Gesellschaft deshalb zunehmend zum Ort authentischen Lebens. Sie werde deshalb zur Ersatzreligion, da die Religion offensichtlich nicht mehr gesellschaftlich angenommen wird. Deshalb vermittele die Psychotherapie mittlerweile Erfahrungen, die ursprünglich in der Religion und im Christentum zu Hause waren

Da der Mensch jedoch nach Begleitern und Riten sucht, die ihm das Erlebnis von Neubeginn und Wiedergeburt vermitteln und in denen er sich der Begrenztheit seines Lebens bewußt wird, kommt er mit der Gradlinigkeit des modernen Lebens nur noch schwer zurecht. Hier könne die Religion helfen, denn sie verfüge über heilsame Symbole gelungenen Lebens, so der Theologe. Es mangele ihr jedoch an der richtigen Praxis. Die Psychotherapie hingegen verfüge über die richtige Praxis, ihr mangele es jedoch an den notwendigen Symbolen gelungenen Lebens

Die Religion schöpfe aus einem tiefen Brunnen, denn sie habe heilende Bilder, Geschichten, Symbole und Rituale, die der Mensch brauche, um sich zu wandeln und Entwicklung auf ein Ziel hin offen zu halten. Ihr fehle aber oft die Basis, das Beziehungsnetz, auf dem diese Symbole ihre heilsame Wirkung entfalten könnten. Die Psychotherapie dagegen könne sagen, unter welchen Bedingungen ein Mensch neu anfangen und fähig werden kann, dem wahren Selbst auf die Spur zu kommen

Der Mensch benötige einen Raum, in dem nichts "exkommuniziert" werde und der in gewisser Weise vormoralisch sei. Dieser vormoralische Raum, der die Liturgie kennzeichne, sei durch die Doktrinalisierung und Objektivierung des Glaubens heimat- und ortlos geworden. Deshalb vermittle die Psychotherapie heute Erfahrungen, die früher die Religion vermittelt habe. Im vormoralischen Raum, was nicht bedeute, daß Religion keine moralische Kompetenz mehr haben solle, müsse wieder eine "unzensierte Lebenserlaubnis" möglich sein. Für die Pastoral bedeute dies, die "vorsprachliche Dimension" des Menschen wieder ernster zu nehmen als bisher. Da das Unbewußte des Menschen ein bedeutender Faktor sei, sollte die Pastoral Orte anbieten, an denen der Mensch "ganz" er selbst sein könne

In diesem Sinne könne Religion zum Verbündeten der Psychotherapie werden. Denn wo Psychotherapie nur Erlebnisse vermittele und von keinen tiefergehenden Erfahrungen mehr geprägt sei, drohe sie zum platten Religionsersatz zu werden. Psychotherapie sei dann eine Heilungstechnik der Psychiatrie, aber keine eigene kulturrelevante Wissenschaft mehr. Die Psychotherapie könnte von der Religion lernen, daß sie manchmal mit dem leidenden und hilfesuchenden Menschen in die gleiche Richtung schauen muß, statt sich nur gegenseitig anzuschauen, sich gegenseitig zu fixieren.

Die Religion könne hier helfen, denn gegenüber einer idealistischen Vorstellung von Ganzheit und Glück der Moderne sei das Menschenbild der Theologie viel realistischer. Menschliches Dasein stehe bei ihr unter dem Vorzeichen der Gebrochenheit menschlicher Existenz, die niemals aufzuheben sei. Leben sei bei ihr immer konflikthaftes und durchkreuztes Leben. In der Psychotherapie stehe der Konflikt für die Gebrochenheit des Menschen, in der christlichen Religion das Kreuz. Diese Gebrochenheit religiös oder psychotherapeutisch aufheben zu wollen, komme einer Illusion gleich, stellte Pater Funke zusammenfassend fest. Dies aufzuklären sei gleichermaßen die Aufgabe von Religion und Psychotherapie

Carsten Kießwetter

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 19 des 49. Jahrgangs (im Jahr 1999).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 16.05.1999

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