Plädoyer für ein neues schulisches Pflichtfach
Philosophie-Professor Eberhard Tiefensee
Frage: Herr Professor Tiefensee, Sie plädieren für die Einführung eines neuen schulischen Pflichtfaches, das in die spirituellen Grunddimensionen von Religion einführt. Warum?
Tiefensee: Ein Mensch entwickelt Selbstwertgefühl und Identität, wenn er weiß, wer er ist und woher er kommt, wenn er also seine Geschichte und die seines Volkes erzählen kann. In Europa ist diese Geschichte über Jahrhunderte stark vom christlichen Glauben geprägt worden, und wer hier lebt, kann ihr nicht ausweichen. In der Schule wird in verschiedenen Fächern etwas davon vermittelt. Meiner Meinung nach reicht es aber nicht aus, rein intellektuell ungefähr zu wissen, was in der Bibel steht, was die Matthäus-Passion von Bach aussagen will und wozu ein Kirchengebäude da ist. Es ist nötig, auch eine emotionale Ahnung davon zu haben und wenigstens ein Stück weit erfahrungsmäßig nachvollziehen zu können, was religiöse Vollzüge ausmacht. Erst dann kann ich zum Beispiel ein wenig nachempfinden, aus welchem Geist heraus Mönche ganze Kulturen revolutioniert haben oder warum heute Menschen in einen Orden gehen.
Frage: Und ein solches Verständnis religiöser Vollzüge fehlt vielen ..
Tiefensee: Es gibt in den neuen Bundesländern, aber auch im Westen immer mehr Leute, die - wenn man mit Max Weber spricht - religiös unmusikalisch sind und von daher innerlich keinen Zugang zu dieser ganzen Wirklichkeit haben. Ich könnte mir vorstellen, daß sich dies angesichts der starken Prägung unseres Kontinents durch das Christentum kulturell auf Dauer verheerend auswirkt, weil sie diese Kultur einfach nicht mehr verstehen. Ich behaupte, daß ein Christ, der in einen buddhistischen Tempel kommt, auch wenn er mit dem Buddhismus so gut wie nichts anfangen kann, eine Ahnung davon hat, was dort geschieht. Während ich mir nicht vorstellen kann, daß jemand, der mit Gebet, Liturgie und Meditation nie persönlich in Kontakt gekommen ist, verstehen kann, was Christentum eigentlich ist. Hier hat die Schule einen allgemeinbildenden Auftrag, den sie bisher nicht erfüllt
Frage: Wo guter schulischer Religionsunterricht stattfindet, werden doch aber mehr als Fakten vermittelt?
Tiefensee: Konfessioneller Religionsunterricht wird in der Regel Kindern angeboten, die christlich vorgeprägt sind und ihn in der Schule am wenigsten brauchen. Die christliche Katechese gehört nach meiner Auffassung in die Familie und die Gemeinde. Solange schulischer Religionsunterricht im wesentlichen das ist, was bisher in den neuen Ländern in der Gemeinde stattfand, ist und bleibt sein Platz die Gemeinde. Allerdings sehe ich den Auftrag, junge Menschen mit Religion bekannt zu machen, nicht damit erfüllt, daß man Religionskunde anbietet
Frage: Sie sprechen damit das in Brandenburg praktizierte Fach Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde (LER) an?
Tiefensee: LER ist in die richtige Richtung gedacht: Nämlich im Blick darauf, daß der überwiegende Teil der Schüler keinen lebendigen Kontakt zur Religion hat, einen Unterricht für alle anzubieten, der auch mit Religion bekannt macht. Aber durch bloße Information versteht man nicht, was Religion eigentlich ist. Wenn ich feststelle, daß sich der größte Teil der Schüler zu wenig bewegt, treibe ich mit ihnen Sport und lehre nicht nur Sportkunde. Dementsprechend kann Religion nur von Lehrern vermittelt werden, die selbst einen lebendigen Kontakt zu ihr haben, in unserer Region heißt das: zum Christentum. Nur mal kurz jemanden einzuladen, der es irgendwie vorführen soll, wenn es dran ist, ist unzureichend. Ich glaube nicht, daß Schülern so eine Welt erschlossen werden kann, die ich nach wie vor für die Gesellschaft und für den einzelnen für grundlegend halte. Es muß also eine Strategie gefunden werden, Schüler auf ganzheitlicher Ebene an Religion heranzuführen
Frage: Wie könnte ein solcher Unterricht aussehen?
Tiefensee: Das Schulfach sollte eine Hinführung zur Spiritualität leisten. Es müßte den Kindern ermöglichen, Meditation, Gebet, Liturgie und religiöse Musik kennenzulernen, und Verständnis dafür wecken, warum es Menschen in Kirchgemeinden und in andere religiöse Gemeinschaften zieht. Ich möchte es mit dem Musikunterricht vergleichen: Am Musikunterricht nehmen alle teil, auch Kinder, die meinen, unmusikalisch zu sein. Und sie lernen dort nicht nur die Noten und wann Mozart gelebt hat - das wäre reine Musikkunde und Musikwissenschaft - sondern sie hören Musik und versuchen mindestens zu singen. Vielleicht machen sie sogar erste Schritte, ein Musikinstrument zu spielen. Um es allerdings dann richtig zu lernen, müssen sie in die Musikschule gehen. Bei dem von mir angeregten Fach geschähe dies dann in den Kirchen und Religionsgemeinschaften.
Frage: Welche Voraussetzungen müßten die Lehrer mitbringen?
Tiefensee: Je erfahrungsbezogener ein Fach ist, desto mehr hängt es von der Lehrerpersönlichkeit ab. Eine religionswissenschaftliche Ausbildung ist notwendig, reicht aber nicht aus. Der Lehrer oder die Lehrerin müßte schon einen lebendigen Kontakt zum christlichen Glauben haben. Gerade jüngeren Schülern - Kinder haben ja so etwas wie eine natürliche Spiritualität - könnten solche Lehrer etwas von der religiösen Dimension der Wirklichkeit erschließen. Und mit dieser Grundahnung von Religion wären die Heranwachsenden dann in der Lage, eigene Wege zu gehen
Frage: Würde die Einrichtung eines solchen Faches der Kirche nicht den Vorwurf einbringen, sie wolle mit Hilfe der Schule neue Mitglieder gewinnen?
Tiefensee: Den Verdacht wird es immer geben. Es liegt in der Sache, daß er sich nie ganz abweisen lassen wird. Aber das eigentliche Ziel ist doch zu versuchen, Menschen mit dem Erfahrungsbereich Religion und so mit dem Geist des Evangeliums überhaupt in Kontakt zu bringen. Ob sie sich dann taufen lassen, hat Gott allein in der Hand. Ich halte es im übrigen für wenig realistisch zu hoffen, man könnte auf diese Weise große Bekehrungserfolge erzielen
Frage: Und was wäre mit den christlichen Kindern?
Tiefensee: Sie würden selbstverständlich wie alle an diesem Unterricht teilnehmen, aber das, was sie an gezielter Hinführung für ihr christliches Leben brauchen, in der Gemeindekatechese bekommen
Frage: Ein solches Fach "Einführung in die Spiritualität" in der Praxis durchzusetzen, dürfte schwierig sein ..
Tiefensee: Ich bin mir darüber im klaren, daß diese Gesellschaft noch erheblichen Diskussionsbedarf hat, welche Rolle in ihr Religion und speziell natürlich das Christentum zu spielen hat. Und sie muß dringend darüber nachdenken, ob sie tatsächlich den Weg weiter verfolgen kann, den die meiner Ansicht nach über sich selbst nicht aufgeklärte Aufklärung gegangen ist, die meinte, es ginge ohne Religion. Deutschland hat schließlich schmerzliche Erfahrungen mit Versuchen gemacht, Religion aus dem öffentlichen Bereich möglichst zu verdrängen. Das ist im Nationalsozialismus Ziel gewesen, und im Sozialismus noch einmal. Jedesmal ist es in einem Desaster geendet. Ich verstehe nicht, warum dies nun zum dritten Mal probiert wird, diesmal vielleicht nicht nur deutschland- sondern sogar europaweit.
Frage: Sehen Sie solche Tendenzen?
Tiefensee: Die Tendenz ist da. Ich denke zum Beispiel daran, daß der größere Teil der jetzigen Bundesregierung Gott aus der Eidesformel weggelassen hat. Das ist ein deutliches Signal dafür, was in dieser Gesellschaft läuft. Man kann inzwischen über alles reden - ohne Schamgrenze. Aber zwei Dinge sind tabu: der Stand des persönlichen Bankkontos und die Gottesfrage. Wer über letzteres redet, verletzt "irreligiöse Gefühle", protestierte einmal Bert Brecht. Um das aber auch zu sagen: Ich will natürlich nicht die Wiederbelebung einer christlichen Staatsreligion
Frage: Die DDR hat die Menschen ja ganz bewußt dazu erzogen, ohne die Frage nach Gott zu leben ..
Tiefensee: Und dies mit "Erfolg": Es ist ein neues, areligiöses Milieu entstanden. Ein Großteil der Bevölkerung interessiert sich überhaupt nicht für die Gottesfrage. Das Problem für uns Christen dabei ist: Wir wissen immer noch viel zuwenig, wie unsere Mitmenschen ihren Alltag ohne den Glauben an Gott bewältigen: Auf welcher Basis spielt sich ihr Familienleben ab? Wie feiern sie ihre Feste? Selbstverständlich haben Christen und Nichtgläubige viele Kontakte miteinander. Aber die Mentalität unserer nichtgläubigen Nachbarn haben wir Christen nur unzureichend erfaßt: Offensichtlich gibt es die Möglichkeit, sein Leben zu gestalten, ohne daß religiöse Fragen irgendwie zum Thema werden. Das zu verstehen, ist eine enorme Herausforderung für die Theologie. Es ist neben Protestanten und Katholiken so etwas wie eine dritte "Konfession" entstanden. Und mit dieser haben wir bis auf weiteres zusammenzuleben. Neugierig bin ich allerdings, wie sich die Jugend entwickeln wird, die jetzt nicht mehr in dem vom Sozialismus geprägten Milieu aufwächst.
Frage: Sehen Sie mit dem Verlust des christlichen Glaubens in der Gesellschaft auch einen Verfall der moralischen Werte einhergehen?
Tiefensee: Es vollzieht sich zweifellos ein Wandel. Aber ich wehre mich dagegen, einfach von Werteverfall zu sprechen. Wenn man den breit angelegten Wertestudien traut, ist die Familie nach wie vor ein hoher Wert, wenn auch für viele nicht mehr realisierbar. Oder der Schutz der Umwelt, der erst in den letzten Jahren in den Mittelpunkt gerückt ist. Auch die Solidarität mit den Fremden. Hier werden gängige christliche Auffassungen transportiert, denn das sind inzwischen im allgemeinen Bewußtsein verankerte christliche Werte. Überhaupt ist Solidarität gerade in Ostdeutschland ein sehr hoher Wert, so daß man fast dazu neigt, um seinetwillen die Freiheit aufzugeben. Es gibt ein Gefühl dafür, daß Ungerechtigkeit nicht sein darf. Das ist übrigens ein Grundzug des postmodernen Denkens überhaupt, dem man gern Beliebigkeit unterstellt, dem es aber darum geht, Machtspiele aufzudecken und den einzelnen zu seinem Recht kommen zu lassen. Das Problem ist, daß dies zu einem unüberschaubaren Pluralismus führt
Frage: Aber ist dies nicht ein Widerspruch? Vorhin haben Sie gesagt, sie glauben, daß massive Unkenntnis über den christlichen Glauben auf Dauer verheerende Folgen haben könnte?
Tiefensee: Auf Dauer sehe ich durchaus die Gefahr, daß wichtige Grundwerte verloren gehen könnten. Das zeigen die außereuropäischen Gesellschaften ohne Christentum: Da gibt es erhebliche Unterschiede zu dem Wertekanon, den das Christentum bei uns installiert hat, also zum Gedanken der Toleranz, der Gleichbehandlung der Schwachen und der Fremden, dazu, daß eine Schichtung der Gesellschaft in Kasten nicht dem Menschen gemäß ist, zum Begriff der Menschenwürde und so weiter. Wenn Tertullian recht hat - und ich meine, daß er recht hat - dann ist das Christentum das, was der Mensch eigentlich sucht. Wenn ich einem Menschen zur Entfaltung seines Mensch-seins verhelfen will, dann muß ich ihn mit Christus bekannt machen. Und genau dafür könnte ein Fach, das in christliche Spiritualität einführt, ein guter Anfang sein.
Interview: Eckhard Pohl
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 23.05.1999