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Aus der Region

Beziehungen von Kirche und Politik in Wittichenau

DDR-Geschichte

Wittichenau (jh) - Ziemlich ungewöhnlich: eine DDR-Schulklasse, in der 1966 von 25 Schülern genau zwei zur Jugendweihe gingen. Doch so etwas gab es, und zwar im selben Ort, wo auch die CDU bei den ersten freien Volkskammerwahlen 1990 mehr als 72 Prozent aller Stimmen erlangte, wo selbst zur Bundestagswahl im letzten Herbst für Gerhard Schröder nicht mal halb so viele Wähler stimmten wie für Helmut Kohl. Hier ist nicht etwa von einem Eichsfeldstädtchen die Rede sondern von Wittichenau - einer Kleinstadt im Sorbenland, in der mehr als 80 Prozent der Bevölkerung katholisch sind

Gerade das Verhältnis von Staat und Kirche in der DDR-Zeit und die Umbildung der politischen Führungsschicht während des Umbruchs 1989/90 in Wittichenau weisen ihre Besonderheiten auf. Henry Krause, Diplom-Politologe und Referent beim Sächsischen Landesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit in Dresden, hat sich damit beschäftigt. Sein Buch "Wittichenau - Eine katholische Kleinstadt und das Ende der DDR" stellte er am 8. Mai in Wittichenau vor

Situationen und Ereignisse, die viele Bürger der Kleinstadt zwischen 1945 und 1990 erlebten, beschreibt der Autor, der aus Altenburg in Thüringen stammt, vor dem Hintergrund politischer Forschungen und Kenntnisse. Wie in seinem Buch griff er auch während der Präsentation einzelne wichtige Beispiele heraus, die vielen der anwesenden Wittichenauer noch gut bekannt waren.

Auf die Kleinstadt war Krause 1994 gestoßen. Bernd Schäfer, damals wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsgruppe zur Aufarbeitung der Tätigkeit staatlicher und politischer Organisationen / MfS gegenüber der katholischen Kirche, hatte ihm den Kontakt zu dem Wittiche-nauer Günter Särchen vermittelt, der die regionale Geschichte genau kennt. Särchen machte Krause mit vielen Wittichenauer Zeitzeugen bekannt und unterstützte ihn bei seinen Studien vor Ort.

Das Buch ist aus der Diplomarbeit Krauses hervorgegangen, in der er sich ursprünglich nur mit der Umbildung der kommunalen Führungsschicht während des Umbruchs 1989/90 in einer katholischen Kleinstadt am Beispiel Wittichenaus beschäftigte. Mithilfe zahlreicher Quellenfunde über das Verhältnis zwischen Staat und Kirche in der DDR konnte er die Arbeit später ergänzen

In seinem Buch geht es Krause nicht um eine lückenlose Geschichtsschreibung. Vielmehr möchte er anhand einzelner Episoden auf die Fragen eingehen: "Wie behauptete sich das katholische Milieu' gegenüber dem totalitären Staat? Wie lief der Systemwechsel 1989/90 ab und mit welcher Konsequenz wurde er durchgeführt?" Seine These: "Je katholischer eine Region, desto weniger Zustimmung zu einer Weltanschauungsdiktatur und desto höhere Ergebnisse bei demokratischen Wahlen für die CDU."

Nach einer kurzen Einführung in die Geschichte der Kleinstadt zu Beginn des Buches, beschreibt der Autor verschiedene Beispiele, die dem Leser das Verhältnis aufzeigen zwischen dem Machtanspruch der DDR und dem katholischen Milieu. Er erwähnt den Streit um Kruzifixe in der Schule im Jahr 1953, den die SED zum Anlaß nahm, unliebsame Lehrer und Mitglieder der Stadtverwaltung aus ihrem Amt zu entlassen. Trotz dieser harten Vorgehensweise der SED, auch in anderen Auseinandersetzungen, wird klar, daß sie gerade in Wittichenau nie richtig "den Fuß in die Tür kriegen konnte". Das drückt sich etwa in den hohen Zahlen derjenigen aus, die nicht zur Jugendweihe gingen oder darin, daß es sich als schwierig erwies, Wittichenauer für Dienste der Staatssicherheit zu werben, da sie solche Anfragen oft dem Pfarrer offenbarten. Es wird auch deutlich, daß es in der späteren DDR-Zeit zu solch offenen Auseinandersetzungen nicht mehr kam. Mehrere der Interviewpartner Krauses stellten fest: Die Wittichenauer waren keine Helden, die die Folgen eines offenen Widerstandes hätten tragen wollen. Vielmehr nutzten sie mit einer gehörigen Portion Schlitzohrigkeit die bestehenden Möglichkeiten für ihre Stadt aus. Im Anschluß an diese Schilderungen beschreibt Krause die Phasen des Übergangs zur Demokratie: die einzelnen Mutigen, die zur letzten DDR-Kommunalwahl im Mai 1989 die Kandidaten auf ihren Wahlzetteln in der Kabine durchstrichen, die Ereignisse der Herbsttage 1989 und schließlich den Einsatz vieler Wittichenauer in politischen Ämtern und ihr starkes Engagement in der CDU

Schließlich analysiert Krause die politischen Akteure der unmittelbaren Nachwendezeit. Er stellt viele Ähnlichkeiten in ihren Prägungen fest: Ein hoher Prozentsatz gehört zur katholischen Gemeinde und pflegt christliche Traditionen. Nur einer ist konfessionslos. Fast alle waren bis zur Wende in der Kolpingsfamilie dem Pfarrgemeinderat oder anderen kirchlichen Gremien aktiv. Im Karnevalsverein oder anderen Verbänden konnten sie Organisationstalent, Verhandlungsgeschick und rhetorische Fähigkeiten lernen. Viele gaben an, daß die Kirche auf sie einen größeren Einfluß gehabt habe als die staatlichen Organe. Aus der starken eigenen Identität der Kirche entwickelte sich eine Resistenz gegen die Doktrinen der DDR-Regierung. Im starken katholischen Milieu und dem Freiraum, den die Kirche bot, schlugen die Gleichschaltungsbemühungen der SED fehl

Anders als in vielen Regionen der ehemaligen DDR wurden die neuen politischen Führer nicht aus dem Westen "importiert". Auch stammten sie nicht aus dem Kreis früherer Dissidenten. Sie kamen aus der zweiten Reihe der ehemaligen Blockpartei CDU, vor allem aber aus der im Herbst 1989 in der Kaplans-Wohnung gegründeten Bürgerinitiative und dem politisch engagierten Karnevalsverein. Auch die kleine aktive evangelische Kirchengemeinde habe sich als "Kandidatenreservoire" erwiesen

Die Ergebnisse seiner Arbeit, kombiniert mit der Auswertung der Wahlergebnisse, die immer große Erfolge für die CDU und ein eindeutiges Votum gegen Vertreter anderer Ideologien verbuchen konnten, führen Krause zu folgender Feststellung: Der politische Umbruch und die Demokratisierung seien in Wittichenau bedeutend konsequenter und rasanter vorangegangen als in vielen anderen Regionen.

Zusammenfassend schreibt Krause in einer Schlußbemerkung: "Bodenständige Religiosität, Heimatliebe und Handwerkertradition ließen den Übergang von einer prinzipiell religionsfeindlichen Diktatur zu einer Demokratie, die der Kirche alle Entfaltungsmöglichkeiten bietet, in Wittichenau reibungsloser verlaufen als anderswo."

Er zitiert den katholischen Priester Peter Paul Gregor, der während des Umbruchs Kaplan in Wittichenau war. Dieser vermutet die Wurzeln der weltanschaulichen Resistenz der Wittichenauer in der Reformationszeit. Die Stadt war im 16. Jahrhundert nach der kurzzeitigen Einführung des evangelischen Glaubens wieder katholisch geworden aufgrund der starken Präsenz des ganz in der Nähe gelegenen Klosters Sankt Marienstern: "Hier hat das Kloster die Hand drüber gehalten. Wittichenau ist katholisch geblieben, während teilweise sogar das Domkapitel evangelisch war. Dieses Die-Hand-Drüber-Halten', diese Grundhaltung, Protest zu machen gegenüber dem Umfeld, das gehört zur Grundausstattung hier."

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 21 des 49. Jahrgangs (im Jahr 1999).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 30.05.1999

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