Mehr Realitätssinn für ostdeutsche Katholiken
Erfurter Kreuzganggespräch
Erfurt (ck) - Katholiken in den neuen Bundesländern mangele es an kirchlichem Gesamtbewußtsein, sagte der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Professor Hans Joachim Meyer, bei einem "Erfurter Kreuzganggespräch" des Philosophisch-Theologischen Studiums und des Katholischen Forums in Thüringen. In einem Vortrag über "Probleme, Herausforderungen und Chancen kirchlicher Entwicklung in Ostdeutschland", mahnte Meyer, die Katholiken könnten in Zukunft kirchlich und gesellschaftlich nur dann wirksam werden, wenn sie ihre Kräfte bündelten. Die fortwirkenden Erfahrungen aus der Zeit der DDR mit den in vielem anders gearteten Erfahrungen seit 1989/90 zu verknüpfen, sei für die katholischen Christen im Osten Deutschlands eine große Herausforderung, die viele innerlich nicht annähmen
Auch wenn die Katholiken im Osten eine Minderheit in einer weithin entchristlichten Gesellschaft seien, dürften sie sich nicht damit begnügen, eine Art Hinterhofexistenz in der katholischen Kirche Deutschlands zu fristen. "Wer nur überleben wolle, werde auf Dauer nicht überleben", so der Präsident des Zentralkomitees der Katholiken.
Auch er sehe, daß in der ostdeutschen Diaspora die hochdifferenzierte Struktur von Gebieten mit ausgeprägter katholischer Tradition nicht übernommen werden könne. Dies gelte aber auch für Teile der alten Bundesrepublik. Für die Katholiken wäre es wichtig, diese Wirklichkeit zu erkennen und sie gestalten zu wollen. Und das nicht nur im Sinne eines individuellen Bewährens und Überstehens, sondern auch im Sinne gemeinsamer Verantwortung für die Gesellschaft
Für einen kurzen geschichtlichen Moment hätten die Christen 1989 und danach im Mittelpunkt des allgemeinen Vertrauens gestanden. Trotz aller Schwachheit, trotz kirchenpolitischer Kungeleien und trotz der Illusionen oder sogar des Opportunismus, die einige wenige Christen zu falschen Allianzen verführt hätten, seien Kirchen und Christen damals eine Alternative geblieben und im Vakuum der Machtauflösung die einzige Autorität gewesen. Es hätte bei den meisten jedoch auch das Gefühl der Überforderung gegeben. Jahrzehntelang seien Christen auf den privaten und innerkirchlichen Bereich beschränkt gewesen. Es sei jedoch gelungen, den Vertrauensvorschuß, den Christen genossen, in einem viel höheren Maße für die Mitwirkung in öffentlichen Ämtern und Aufgaben zu nutzen, als dies in der entchristlichten Gesellschaft des Osten zu erwarten war. Was jedoch weithin nicht gelungen sei, sei der öffentliche Dialog über den Sinn des Lebens und der Geschichte gewesen
"Für nicht wenige wurde aus der nüchternen Erkenntnis, daß wir nur eine kleine Herde sind, eine Ausrede. Und aus den Chancen der kleinen Herde, wie sie die Dresdner Pastoralsynode für das Wirken in der Kirche und mit unseren Mitmenschen sah, wurde die fromme Nische - fernab nicht nur vom Getriebe der bösen Welt, sondern auch nur zu oft fern von einer gern als betriebsselig verdächtigten Kirche", beschrieb Meyer die derzeitige Situation. Er warf Laien wie Geistlichen im Osten Unkenntnis des deutschen Katholizismus und seiner Geschichte vor, in dem er sagte: "Was noch viel schlimmer ist, sei ein nicht selten als Tugend vorgezeigtes Desinteresse daran. Analphabetismus ist für sich genommen schon schlimm genug. Wer jedoch Ignoranz auch noch in den Rang eines Bekenntnisses erhebt, der verhärtet sich gegen jede Einsicht und Erfahrung. Mangelnder Realitätssinn - und zwar sowohl in bezug auf die Gesellschaft, als auch in bezug auf die Kirche - war und ist ein Merkmal unserer geistigen Situation im Osten."
Das katholische Leben im Osten Deutschlands trage noch weithin Züge, die durch die Geschichte von 1945 bis 1989 geprägt seien. Es sei das Gesicht einer Minderheit am Rande des Geschehens. Freilich mit einem gravierenden Unterschied: Die Kirche stelle heute keine Alternative mehr zur offiziellen Gesellschaft dar, sondern sie sei eines der Angebote auf dem Markt der Möglichkeiten. Und dieses Angebot habe nicht mehr den Reiz des Verbotenen, es gelte als lebensfremd und ohne Bezug zu Fragen der Zeit.
Aber auch in einer freiheitlichen Gesellschaft müsse die Kirche Gegenpol zu innerweltlichen Glückserwartungen sein. Es seien von der Vergangenheit geprägte Haltungen, die die Katholiken heute ohne äußeren Zwang an den Rand der Gesellschaft geraten ließen, meinte Meyer. So etwa die Angst vor der Freiheit. Es sei ein Schock für viele Christen gewesen, daß der Freiraum eigenen Handelns, den die Kirche nun auch im Osten zurück erhalten habe, mit dem Freibrief für andere verbunden war, offen gegen die Kirche tätig sein zu dürfen. Zwischen der Selbstdisziplin im Schützengraben, wie sie für die DDR-Zeit einsichtig war, und der Lust am innerkirchlichen Streit um der öffentlichen Profilierung willen, wie sie in der alten Bundesrepublik erblüht ist, klafften Welten, stellte Meyer fest. Desweiteren gäbe es die Flucht in die Bequemlichkeit der kleinen Herde. Eine verbreitete Haltung sei, in der überschaubaren Lebenswelt der eigenen Pfarrei zu verharren und zu den großen Fragen der Kirche in der heutigen Zeit keine Meinung zu haben. Mindestens genau so schlimm sei es, wenn sich Katholiken möglichst klein und demütig machten, auf daß ihnen eigene Entscheidungen erspart bleiben mögen
Und drittens sei da der Widerwille gegen die Wirklichkeit. Obwohl diese selten angenehm sei, fordere sie aber Entscheidung und Auseinandersetzung vom einzelnen. Deshalb sollten auch die Katholiken in der Diaspora ehrlich bekennen, daß "alles Menschenwerk unvollkommen bleibt, gleichwohl sie als gute Menschen die Neigung haben, alles Schöne zu einem Programm zu vereinen und es sich nur als Bosheit der Politik erklären können, wenn es trotzdem nicht so wird, wie sie möchten", sagte Meyer und warnte vor der Fortsetzung einer kirchlichen Bewahrungsstrategie, die sich als ein Versagen vor Herausforderungen darstelle. Die Chance kirchlicher Entwicklung in der pluralen Gesellschaft sah Meyer, trotz ungünstiger Rahmenbedingungen, nicht schlecht. Die Tatsache, daß die Christen eine Minderheit sind, empfand er sogar als möglichen Vorteil. Alle geistigen Bewegungen und geschichtlichen Entwicklungen seien von Minderheiten ausgegangen. Nur sie könnten Profil zeigen. Entscheidend sei ihre innere Überzeugung und Entschlußkraft
Zum zweiten könnten die Christen in der ehemaligen DDR die geringere Verwicklung in die Debattengeschichte der alten Bundesrepublik als Vorteil nutzen und gleichsam mit weniger unnützem Gepäck marschieren. Die Chance des Neuanfangs im Osten bestünde auch in der geringeren Belastung durch den Streit von gestern
Zum dritten werde die künftige Gesellschaft viel stärker globale Züge zeigen, die Globalität der katholischen Kirche könnte sich dann als ein noch größerer Vorteil erweisen. Freilich müsse man dann endlich lernen, Globalität nicht mit Zentralismus zu verwechseln und begreifen, daß auch eine zusammenwachsende Welt eine Welt der Vielfalt sein werde. Meyer zufolge wird dieses Potential allerdings nur zur Wirkung kommen, wenn sich die folgenden Voraussetzungen erfüllten:
Die Katholiken müßten sich frei machen von den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts, die Kirche sei ein monolithischer und unwandelbarer Block, der gegen die Zeit stehe. Statt dessen müßte man wieder ein Verständnis für die lebendige Beziehung zwischen Kirche und Geschichte entwickeln, in der sich der Glaube als Quelle der Antworten im Dialog mit der immer neu fragenden Menschheit erweise. Kirche müsse wieder als Gemeinschaft begriffen werden, die auf der Suche nach Erkenntnis der Wahrheit sei und sich zugleich, zwar nicht in ihrem Wesen, wohl aber in ihrer historischen Gestalt wandeln müsse.
Weiterhin müsse die Wirklichkeit als Herausforderung angesehen und auf ihre Entwicklung Einfluß genommen werden. Man müsse - ohne spalterische Abgrenzung - zu einem überpfarrlichen und -diözesanen Gespräch über die Situation katholischer Christen in Ostdeutschland kommen. Eben weil sie so wenige sind und überdies zersplittert, sei ein Gedankenaustausch nötig, und zwar nicht nur unter jenen, die die DDR unmittelbar erlebt haben. So wie die Katholiken der ostdeutschen Diaspora nach zehn Jahren begründete Auffassungen über vieles im Westen hätten, gebe es inzwischen nicht wenige aus den alten Ländern, die eben diesen einiges über sie selbst sagen könnten. Die Situation im Osten sei eine Herausforderung für die ganze katholische Kirche Deutschlands. Spätestens jetzt, da Berlin wieder zur Hauptstadt wird, sollte dies Katholiken in Ost und West klar werden
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 30.05.1999