Cem Özdemir von Bündnis 90 / Die Grünen
Religion und Politik (2. Teil)
Kirche und Christen können "einen entscheidenden Beitrag" für die gesellschaftlich so wichtige Werteerziehung leisten. Das erklärte Cem Özdemir (Bündnis 90 / Die Grünen) im Rahmen derselben Veranstaltungsreihe der Berliner Akademie. Die Werteerziehung sei auch bedeutsam mit Blick auf rechtsradikale Tendenzen unter der ostdeutschen Jugend, fügte Özdemir, innenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion seiner Partei, hinzu. Die Anfälligkeit junger Menschen in den neuen Bundesländern gegenüber dem Rechtsradikalismus erkläre sich zum Teil aus der Praxis des menschenverachtenden DDR-Systems, das ausländische Arbeitskräfte gezwungen habe, abgeschottet von der übrigen Bevölkerung zu leben, sagte Özdemir
Nachdrücklich setzte sich der Grünen-Politiker für die Erhaltung des schulischen Religionsunterrichtes ein. Er sei aus "schulpädagogischen Gründen" notwendig, da er das einzige Unterrichtsfach sei, das die "Sinnfrage" stelle, unterstrich Özdemir. Gleichberechtigt zum Religionsunterricht schlug er ein zweites Unterrichtsfach Ethik / Philosophie vor. Beide Fächer sollten auch zum Abitur zugelassen werden
Muslimischer Religionsunterricht an deutschen Schulen sollte gemäß Artikel 7.3 des Grundgesetzes integriert werden, forderte der Politiker. Immerhin stelle der Islam mit 2,8 Millionen Anhängern die drittgrößte Religionsgemeinschaft in Deutschland dar. Ein Hindernis sei aber die Uneinigkeit unter den vielen muslimischen Glaubensrichtungen. Bis zu deren Überwindung könne als "Zwischenschritt" eine "Religionsunterweisung" erteilt werden, wie in Nordrhein-Westfalen bereits erfolgreich praktiziert. Sie könne helfen, den "Islam aus den Hinterhöfen zu holen" und dem Fundamentalismus entgegenzuwirken
Zum Verhältnis von Staat und Kirche konstatierte Özdemir, es gebe nur eine "hinkende Trennung" zwischen ihnen. Reformen seien besonders bei der Erhebung der Kirchensteuer nötig. In Anbetracht der Tatsache, daß sich 75 Prozent aller Altenheime, 60 Prozent der Kindergärten und 30 Prozent der Krankenhäuser in der Bundesrepublik in kirchlicher Trägerschaft befinden, sowie der Beliebtheit konfessioneller Schulen, müsse ein "neuer gesellschaftlicher Konsens über die Finanzierung kirchlicher Arbeit" gefunden werden, forderte Özdemir. Weiteren Änderungsbedarf sehe seine Partei beim kirchlichen Arbeitsrecht und der Militärseelsorge. Gegenwärtig dominiere ein "Reformstau", der "den faulen Kompromiß begünstigt", kritisierte er unter Hinweis auf die Regelung der Seelsorge an Soldaten
Die Debatte über die Trennung von Staat und Kirche, aber auch über ihre Kooperation dürfe "nicht gegen die Kirchen, sondern müsse mit ihnen zusammen" geführt werden, sagte Özdemir. Den Kirchen würde es gut tun, "wenn die weltanschauliche Neutralität des Staates zum Jahrtausendwechsel auch zu einer Neutralität der Kirchen gegenüber den Parteien führt". Als Ausdruck des Zusammenwirkens von Religion und Politik sollten die Kirchen "Zeichen der Gemeinsamkeit" setzen. Das könne beispielsweise in Berlin ein Begegnungszentrum für christliche, jüdische und muslimische Jugendliche sein.
rc/tdh
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 06.06.1999