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Bistum Görlitz

Mutter Erde klagte an

Jugendwallfahrt

Eisenhüttenstadt / Neuzelle (jh) - "Bitte alle Beteiligten aufstehen! Das Hohe Gericht betritt den Saal." Staatsanwaltschaft und Verteidigung erheben sich. Auch die Klägerin und der Angeklagte stehen von ihren Plätzen auf. Nachdem der Richter in den Gerichtssaal eingezogen ist, dürfen sich auch die anderen wieder hinsetzen. "Ich darf die Staatsanwaltschaft bitten, die Anklage zu erheben", tönt die Stimme des Richters durch den Verhandlungssaal und der zweite Staatsanwalt verliest die Anklageschrift

Hierbei geht es allerdings nicht um ein Diebstahlsdelikt oder Steuerhinterziehung, und es muß sich auch kein Verkehrssünder verantworten. Diese Verhandlung ist brisanter. Die Klägerin ist Mutter Erde. Sie hat den Menschen angeklagt. Die Zuschauer des Prozesses sind keine Schaulustigen oder Gläubiger. Im Verhandlungssaal - genauer gesagt, dem Kirchenschiff - sitzen zirka 300 junge Katholiken, Teilnehmer der Jugendwallfahrt 1999 des Bistums Görlitz, deren Thema in diesem Jahr die Schöpfung war. Ihnen kommt am Ende die schwerwiegende Aufgabe zu, als Geschworene abzustimmen. Wenn alle Zeugen vernommen sind und Staatsanwalt sowie Verteidiger ihre Schlußplädoyers gehalten haben, dann müssen sie abstimmen: Ist der Mensch schuldig oder unschuldig?

Die Anklage lautet auf Mord, fahrlässige Tötung, gefährliche Körperverletzung, dazu Gewässerverunreinigung. Der Angeklagte habe wissentlich und planmäßig gearbeitet aus Grausamkeit, Habgier und niederen Beweggründen

Das Stück spielte sich am 29. Mai abends in der evangelischen Kirche in Eisenhüttenstadt ab, dem Ausgangsort der Wallfahrt. Wenige Wochen zuvor hatten sich Jugendliche im Neuhausener Don-Bosco-Haus getroffen, um es vorzubereiten. Aber es war kein Theaterstück im herkömmlichen Sinne, denn keiner hatte einen Text auswendig zu lernen. Jeder wußte nur, in welche Rolle er schlüpfen muß, und bereitete sich dann selbst vor. Die Verteidiger dachten sich ihre Fragen an die Zeugen selbst aus, die Staatsanwaltschaft genauso. Auch die Zeugen waren ganz allein dafür verantwortlich, was sie antworteten. Unterstützung bekamen die Jugendlichen von Fachmännern. Der Richter war nicht bloß gemimt. Urteile sind auch sonst sein Job. Klaus Schmitt ist vorsitzender Richter am Landgericht Cottbus. Auch die beiden Sachverständigen wußten, wovon sie redeten. Ein Öffentlichkeitsreferent von Greenpeace unterstützte die Staatsanwaltschaft und Dr. Josef Horntrich, bis vor kurzem leitender Chefarzt in der Carl-Thiem-Klinik Cottbus, die Verteidigung. Staatsanwalt Matthias Herrmann komplettierte die Ankläger-Riege

Vernommen wurden die Zeugen Baum, Bio-Bauer, Robbe, eine kranke Mutter, ein kleines Mädchen und eine Managerin. Staatsanwalt und Verteidiger machten stark von ihrem Einspruchsrecht Gebrauch, was für die Zuschauer recht unterhaltsam war. Auch der Hammer, mit dem der Richter für Ruhe sorgt, kam zum Einsatz. Bei all dem wurde klar, daß der Mensch an vielen Stellen rabiat in die Natur eingreift, sie zerstört. Andererseits laufen Umweltschutzmaßnahmen

Nach zweieinhalbstündiger Verhandlung war es so weit: Die Jugendlichen mußten abstimmen. Jetzt passierte das, was in der Jugendseelsorge niemand vorausplanen konnte. Die "Geschworenen" entschieden sich für den Freispruch, wenn auch nicht mit absoluter Mehrheit

Das Stück bot Denkanstöße. Eines wurde klar: Ein pauschales Urteil ist nicht zu sprechen. Jeder muß sich hinterfragen und überlegen, wie er mit der Schöpfung umgeht

Sensibel zu werden für die Schönheit der Schöpfung und ihre Elemente Erde, Wasser, Feuer und Luft - dazu sollte der Wallfahrtsweg von Eisenhüttenstadt nach Neuzelle helfen

In diesem Jahr war er ein Experiment. Gegen ein Uhr in der Nacht machten sich alle auf den Weg. Am Oderdeich entlang stapften sie durch die milde Vollmondnacht. Das Quaken der Frösche war zu hören, wenn die Jugendlichen auch nicht so ruhig gingen, wie es gedacht war. Wer genau hinsah, konnte die diesigen Nebel über der Oder sehen. Selbst Bischof Rudolf Müller und der "Jugendbischof" der Deutschen Bischofskonferenz, Franz-Josef Bode, die schon während der Eröffnung in Eisenhüttenstadt dabei waren, stießen kurz vor der dritten Statio zum Pilgerzug

An den vier Stationen wurden kurzen Texte oder Bibelstellen vorgelesen, in denen die Elemente erwähnt sind. Auch die Lieder waren passend ausgewählt. An jeder Statio gab es zusätzlich etwas ganz Praktisches, das dann bis nach Neuzelle "mitwanderte". Zuerst nahmen die Jugendlichen das Element Erde ins Visier. Hier war ein Fühlparcour vorbereitet. Außerdem wurde ein Bäumchen in einen Kübel gepflanzt. Jede Gemeinde hatte dafür etwas Erde von zu Hause mitgebracht. An der zweiten Statio "Wasser" wurde das Bäumchen, das in einer Schubkarre mitreiste, begossen. An der dritten Statio, wo es um Feuer ging, wurde die Wallfahrtskerze entzündet und mitgenommen. Von der Luft-Statio blieben eine Weihrauchschale und ihr Duft als Zeichen

Auch neben den Stationen des Weges und dem Gerichtsstück hatten die Jugendlichen und die Mitarbeiter der Jugendseelsorge noch einiges mehr vorbereitet. Begonnen hatte die Wallfahrt am Samstag gegen 17 Uhr mit einer Eröffnungsfeier. Die Pantomime "Die sieben letzten Tage der Schöpfung" hatte hier auf das Thema eingestimmt. Um die Kirche waren Stände von Greenpeace und der Kampagne "Erlaßjahr 2000" aufgebaut. Während nach der Gerichtsverhandlung einige mit Naturmaterialien bastelten und andere in aller Aufregung ihren Kabarett-Auftritt probten, der ebenfalls vor wenigen Wochen in Neuhausen vorbereitet worden war, baute die Band "Batiknacht in v.f." ihre Anlage auf. Die Mitglieder wollten übrigens nicht verraten, was die Abkürzung im Bandnamen bedeutet. Nach Kabarett und Konzert ging es dann erst auf den Wallfahrtsweg

So hatten viele der Jugendlichen schon einiges "in den Knochen", als am Sonntag früh um fünf Uhr der eigentliche Höhepunkt, der Gottesdienst in der Neuzeller Stiftskirche, losging. Wache und begeisterte Musiker - ein kleiner Chor und Instrumente, die an eine Big Band erinnerten, heizten so manchem müden Pilger ordentlich ein. Neben Saxophon und Schlagzeug waren auch Gitarren, Geige, Keyboard, Trompete und Querflöte im Einsatz. In seiner Predigt erinnerte Bischof Franz-Josef Bode noch einmal an das Thema der Wallfahrt "(c)reated by God". In der Taufe sei jedem das Qualitätsmerkmal Gottes, unseres Schöpfers eingeprägt. So könnte das Zeichen (c) auch für Christ stehen

Und was nehmen die Jugendlichen von der Wallfahrt mit? Zunächst ein Beutelchen mit einer Scherbe, die sie an die Zerbrechlichkeit der Schöpfung erinnern soll und einige Samen zum Einpflanzen. Daneben aber sind sie wohl außer mit Müdigkeit noch mit ganz unterschiedlichen Eindrücken nach Hause gefahren. Beate Steige, Referentin in der Jugendseelsorge, erzählte, sie habe ganz unterschiedliche Resonanz bekommen. Von "Sowas mache ich nicht wieder mit. Ich bin so fertig" bis zu "Das war die beste Jugendwallfahrt, die ich je erlebt habe" sei alles dabei gewesen

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 22 des 49. Jahrgangs (im Jahr 1999).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 06.06.1999

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