Die raue Seite der Liebe
von Pater Damian
Der als "Lumpensammler von Paris" bekannt gewordene Abbé Pierre hat nach einem langen und bewegten Leben in der Nächstenliebe in sein Testament geschrieben: "Das erste Fundament meines Glaubens heißt: Gott, der Ewige, ist die Liebe. Das zweite ist die Gewissheit, geliebt zu werden .Das dritte Fundament ist die Gewissheit, dass diese mysteriöse Freiheit in uns keine andere Daseinsberechtigung hat, als uns zu befähigen, die göttliche Liebe mit Liebe zu beantworten. Die blendende Schönheit der Freiheit liegt darin, dass sie uns nicht von etwas befreit, sondern für etwas: um zu lieben und geliebt zu werden."
Hier ist in einfachen Worten auf den Punkt gebracht, worauf es im Leben eines Christen, eines jeden Menschen ankommt: Als von Gott Geliebter den Mitmenschen zu lieben. Damit sagt Abbé Pierre nichts Neues, aber die Frage ist: Hat er selbst diese Liebe gelebt?
Die Nächstenliebe ist nicht etwas Abstraktes oder ein allgemeiner Überschwang des Wohlwollens ("Seid umschlungen, Millionen!"), sondern geht konkret und realistisch vor, ja sie ist parteiisch. Abbé Pierre hat sich mit seiner ganzen Kraft und Fantasie eingesetzt für die Obdachlosen und Gestrandeten. Und ist dabei recht erfolgreich geworden, wenn man an seine großen Aktionen und den Aufbau der "Emmaus-Gemeinschaften" in vielen Ländern der Welt denkt. Es war eine mühsame Arbeit gegen das Unverständnis und den Widerstand von Regierungsstellen und Behörden. Oft packte ihn ein heiliger Zorn, und er nahm kein Blatt vor den Mund, wenn es darum ging, den zuständigen Stellen die bittere Wahrheit zu sagen. Im kalten Winter 1954 waren in Paris etliche Obdachlose erfroren und verhungert, weil sich niemand um sie kümmerte. Eine große französische Zeitung hat ihn treffend "die heilige Nervensäge" genannt.
Ja, Abbé Pierre hat die Nächstenliebe geliebt, und dabei hat er vor allem die unerbittliche, die raue Seite der Liebe gezeigt. Echte Nächstenliebe kann nicht heucheln, kann die Wahrheit nicht umgehen. Liebe ist nicht bloße Gutherzigkeit, die alles duldet. Sogar in der Liebe zwischen Freunden kann die Liebe manchmal schmerzlich sein, wenn der Freund dem Freund die Wahrheit sagen muss, die unangenehm, aber heilsam für ihn ist. Der Liebende möchte, dass es um den Geliebten gut bestellt sein möchte. Der heilige Augustinus sagt: "Der Freund gerät in Zorn und liebt, der getarnte Feind schmeichelt und hasst", und: "Die Liebe zürnt, Übelwollen redet nach dem Munde."
Pater Damian Meyer
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 08.11.2001